Der Schweizer Frauen-Radsport in der Elite wurde in den letzten Jahren oft auf das Duo Marlen Reusser/Elise Chabbey reduziert. Doch das Jahr 2024 meinte es nicht gut mit ihnen. Während Reusser durch ein Post-Covid-Syndrom gezwungen wurde, ihre Saison vorzeitig abzubrechen, wurde Chabbey immer wieder vom Sturzpech verfolgt.
Zum Glück für die Schweiz nutzte mit Noemi Rüegg eine junge Athletin die Gelegenheit, in die Bresche zu springen. Und wie sie das tat. Gleich in ihrem ersten Saisonrennen fuhr Rüegg im Januar auf Mallorca zu ihrem Premierensieg als Profi.
Mehr Freiheiten dank Teamwechsel
Diese Geschichte passt perfekt ins Bild einer jungen Frau, die seit 2022 voll auf die Karte Radsport setzt und auf diese Saison hin vom Team Jumbo-Visma zum neu gegründeten Frauenteam von EF Education-Cannondale wechselte.
Ich bin immer noch in der Findungsphase.
Die amerikanische Equipe verfolgt eine komplett andere Philosophie als Jumbo-Visma, hält die Hierarchien im Team flach und den Druck auf ihre Fahrerinnen gering. Das Umfeld ist familiärer. Für Rüegg, die früher oftmals Angst hatte, Fehler zu machen, die perfekte Umgebung, um den nächsten Schritt in ihrer Karriere zu machen.
Im Sommer ging es Schlag auf Schlag
Im Juni nahm Rüeggs Saison mit dem Sieg im Strassenrennen der Schweizer Meisterschaft so richtig Fahrt auf. Die Olympia-Teilnahme war ein Traum; dass ihr in Paris mit dem 7. Platz gleich ein so starkes Ergebnis gelang, hätten ihr nur wenige zugetraut.
Seither ging es für Rüegg Schlag auf Schlag weiter: Tour de France, Tour de Romandie und zuletzt die EM in Belgien. Und überall wusste sie zu überzeugen. Mal als starke Allrounderin, mal, weil sie am Hinterrad der Weltmeisterin Lotte Kopecky ganz vorne mitsprintete.
Was auffällt: Rüegg kann auf unterschiedlichen Terrains glänzen. Das kann Segen und Fluch zugleich sein. Dann nämlich, wenn es darum geht, sich zu entscheiden, sich in eine gewisse Richtung zu spezialisieren. «Das fällt mir tatsächlich schwer. Ich bin immer noch in der Findungsphase», sagt Rüegg.
Ein Fall für zwei
Mit der Heim-WM im eigenen Kanton steht für die Zürcherin das letzte Highlight einer langen Saison an. Ihre Form sei in etwa so wie in Paris, verrät Rüegg.
Eine Runde auf dem Stadtrundkurs, den die Frauen am Samstag im Strassenrennen fünfmal zu bewältigen haben, konnte sie am Mittwoch im Mixed-Teamzeitfahren bereits rennmässig absolvieren. Der Parcours liegt ihr. «Ich mag die kurzen, wiederkehrenden Anstiege mit wenig Erholungszeit.»
Als Alleinunterhalterin im Schweizer Team sieht sie sich aber keinesfalls. Zusammen mit Elise Chabbey will sie eine Co-Leaderrolle einnehmen. «Wir sind ähnliche Fahrertypen. Elise kann sicher probieren, eine Attacke zu fahren und in einer Fluchtgruppe unterzukommen.»
Unterstützung soll das Duo dabei von Caroline Baur und Elena Hartmann erhalten, welche das Schweizer Quartett im Strassenrennen komplettieren.
Das Ziel ist es, so lange wie möglich dabei zu bleiben.
Rüegg selber werde versuchen, «so lange wie möglich an der ersten Gruppe dranzubleiben. Es wird sicher hart werden. Ich weiss nicht, ob ich mit den absoluten Topfahrerinnen mithalten kann, wenn die Vollgas die Anstiege hochfahren. Das Ziel ist es, mit einer kleinen Gruppe ins Ziel zu kommen.»
Dann kann sie ihren Sprintfähigkeiten vertrauen, wie im Januar auf Mallorca, als der Höhenflug der Aufsteigerin des Jahres seinen Anfang nahm.