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Covid-Geimpfte auf der Suche nach Antworten
Aus Puls vom 04.04.2022.
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Auf der Suche nach Anerkennung Nebenwirkung oder nicht? Covid-Geimpfte im Ungewissen

Impfungen stehen seit jeher im Verdacht, unbekannte Nebenwirkungen auszulösen. So auch die gegen Covid-19. Doch der Nachweis ist schwierig und durch Betroffene selbst kaum zu erbringen. Eine Familie erzählt von der belastenden Suche nach Anerkennung und wie Wissenschaft und Behörden damit umgehen.

 Mit unsicherem Gang stösst Corinne Hirt ihren Rollstuhl vor sich her und steuert die nächste Sitzbank an. Die 54-Jährige kann nur noch kurze Strecken laufen, muss immer wieder pausieren und die Beine hochlagern. Ihr Ehemann sowie ihr Sohn und eine Tochter begleiten sie heute auf ihrem täglichen Spaziergang dem Waldrand entlang. Sehr oft werden die Beine der Mutter steif und beginnen zu zittern. 

Verdacht: Impfnebenwirkung 

Alles begann wenige Stunden nach der ersten Covid-Impfung vor knapp einem Jahr. Damals entwickelte Corinne Hirt ein sehr seltenes Syndrom – genannt Pots (posturale Tachykardiesyndrom). Es raubt ihr alle Energie und hat den Alltag komplett auf den Kopf gestellt. Ihr Kreislaufsystem funktioniert nicht mehr richtig. Vor allem im Stehen fällt ihr Blutdruck ab und ihr Puls kommt aus dem Takt. 

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Mutter und Sohn waren einst gesund
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«Das ist ziemlich massiv. Ich bekomme dann Kopfdruck, das ist wie ein Helm, der den Kopf zusammenzieht», sagt Corinne Hirt. Auch Benommenheit und Morgenübelkeit gehören dazu. «Und ich fühle mich extrem schwach und unsicher.» Sie muss immer wieder die Beine hochlagern oder flach liegen, damit die Symptome abklingen.  

Ihr 20-jähriger Sohn Cedric leidet am gleichen Syndrom. Bei ihm kamen die ersten Symptome einen Tag nach der Covid-Impfung. Beide waren vorher gesund. Dass sie beide erkrankten, könnte an einer genetischen Veranlagung in der Familie liegen.

Nutzen und Risiken der Impfung im Vergleich

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Spitaleinweisungen pro 100'000 Personen
Legende: Spitaleinweisungen pro 100'000 Personen BAG

Der Nutzen der Impfung überwiegt die Risiken, so die Einschätzung von Behörden und Wissenschaft. Bei den Hospitalisationen beispielsweise zeigt sich klar, dass auf 100‘000 Personen Spitaleinweisungen bei Ungeimpften viel häufiger vorkommen als bei geimpften Personen. Das Risiko ist laut dem Bundesamt für Gesundheit (BAG) über alle Alterskategorien hinweg rund drei­zehn­mal höher. 

Die Covid-Impfungen gelten als enorm wichtig in der Pandemiebewältigung und werden als sicher bewertet. Aktuell sind auf rund 15.7 Millionen verabreichte Impfdosen in der Schweiz 5491 schwerwiegende Verdachtsmeldungen bei Swissmedic gemeldet. Umgerechnet heisst das: Eine schwerwiegende Verdachtsmeldung auf rund 2860 verabreichte Impfdosen.

«Ich bin auch betroffen, aber nicht so krass wie sie», sagt Cedric Hirt und stösst seine Mutter zur nächsten Sitzbank ein paar hundert Meter weiter. Er habe vor allem Hirnnebel, Konzentrationsprobleme und Mühe mit dem Herzschlag beim Aufstehen.  

Die beiden Schwestern hatten Glück. Obwohl sich die ganze Familie hat impfen lassen, hatten sie, wie auch ihr Vater, nur die normalen Impfreaktionen.

Leichte Bewegung gegen schwere Symptome 

Nach längeren Ruhepausen auf dem Sofa steht für Corinne Hirt Velofahren auf dem Programm. Der Hometrainer gehört fix zum durchgetakteten Therapiealltag. Leichte Bewegung hilft gegen die Kreislaufprobleme und die chronische Fatigue. Die selbstständige Physiotherapeutin ist noch immer komplett arbeitsunfähig.  

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«Ich habe mich bewusst für die Impfung entschieden, auch als Dienst an der Gesellschaft»
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Trotzdem sagt sie heute: «Ich habe mich bewusst entschieden, mich impfen zu lassen. Nicht nur für mich selber, sondern auch als Dienst an der Gesellschaft.» Sie sei froh, nicht gezwungen worden zu sein. Es sei ihre Entscheidung gewesen: «Mit dem kann ich ein bisschen besser umgehen.»

Für Fälle wie den von Corinne Hirt ist die Bundesbehörde Swissmedic zuständig. Seit Beginn der Impfkampagne überwacht sie die Sicherheit der Impfstoffe und sammelt alle Verdachtsfälle auf Impfnebenwirkungen, welche ihr medizinische Fachpersonen und Patienten melden.

Schon über 14'000 Verdachtsfälle überprüft

Bislang wurden zu den Covid-Impfstoffen schon 14'624 Meldungen ausgewertet. Doch der Entscheid, dass eine Impfung für Symptome oder Krankheiten die Ursache ist, stellt für die Behörde eine grosse Herausforderung dar.

Jede Verdachtsmeldung wird zur Prüfung an ein sogenanntes Pharmakovigilanz-Zentrum geschickt; sechs solcher Standorte gibt es schweizweit. Das nationale Referenzzentrum für die Covid-Impfungen befindet sich im Kantonsspital Lugano. Hier beurteilt das Team um Alessandro Ceschi die eingehenden Meldungen nach einheitlichen Kriterien, die weltweit zur Überwachung von Arzneimittel angewendet werden. 

Für den Pharmakologen und sein Team ist es alles andere als einfach, den Zusammenhang mit einer Impfung klar zu belegen: «Hundertprozentige Gewissheit gibt es in der Medizin nicht», sagt Ceschi. Oft gibt es bei den gemeldeten Krankheiten auch andere Auslöser, die er in Betracht ziehen muss.

Alessandro Ceschi betont, dass alle Meldungen immer individuell beurteilt werden müssen. Es gebe beides: Fälle, die wahrscheinlicher von der Impfung ausgelöst würden und solche, bei denen dies unwahrscheinlicher sei.

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«Es ist alles andere als einfach, den Zusammenhang eines Verdachtsfalls mit einer Impfung klar zu belegen»
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Ceschi nennt das Beispiel einer 80-jährigen beeinträchtigten Frau. Sie erlitt fünf Monate nach der Impfung einen Schlaganfall – ihr Risiko war durch ihre Vorerkrankungen bereits sehr hoch. «Das ist ein Fall, bei dem mit einer hohen Wahrscheinlichkeit der Zusammenhang zur Impfung nicht gegeben ist», sagt der Arzt. 

Beurteilung zur Impfung ist wichtig

Für Betroffene wie die Familie Hirt ist die Beurteilung des Zusammenhangs ihrer Erkrankung mit der Impfung wichtig, wenn es beispielsweise darum geht, Impfschäden geltend zu machen. Der Mann von Corinne Hirt hat ihre Fälle beim BAG als Impfschaden angemeldet. «Wenn man das erlebt, ist der kausale Zusammenhang eigentlich hundertprozentig», an einen solchen Zufall glaube er nicht.

Der Hausarzt unterstützt die Familie und hat den Fall bei der Zulassungsbehörde Swissmedic bereits im letzten Jahr gemeldet. Und auch ihre Fachärzte bieten den Hirts viel Unterstützung.  

Wenn Swissmedic so defensiv ist, löst das ein ungutes Gefühl aus.
Autor: Michael Hirt

Doch für die Familie ist es belastend, dass sie nicht weiss, wie Swissmedic die Situation beurteilt und dass die Bundesbehörde auch noch nie über solche sehr seltenen Nebenwirkungen berichtet hat. Michael Hirt sagt: «Man fragt sich schon, woran es liegt, wenn von den Behörden nichts retour kommt.» Das gebe eine gewisse Skepsis.

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«Der Zusammenhang ist derart eindeutig, dass man sich schon wundert, wenn von den Behörden nichts retour kommt»
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Der Familienvater räumt ein, dass sie Verständnis hätten, dass die Verantwortlichen von Bund und Behörden die Impfkampagne nicht korrumpieren wolle: «Aber wenn man so defensiv ist, löst das ein ungutes Gefühl aus.»

Swissmedic nimmt Stellung zum Fall

Christoph Küng von Swissmedic nimmt erstmals öffentlich Stellung zu einem solchen konkreten Fall. Dafür musste Familie Hirt die Behörde erst schriftlich vom Amtsgeheimnis entbinden.

Der Leiter Arzneimittelsicherheit zeigt dem SRF-Gesundheitsmagazin «Puls» in der Datenbank die beiden «Case safety Reports» von Corinne und Cedric Hirt. Sie sind die einzigen Fälle mit diesem Syndrom, die in der Schweiz gemeldet wurden. Weltweit gebe es nur 483 solche Verdachtsmeldungen zu Pots nach einer Covid-Impfung.  

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«Hinter diesen Fällen stehen immer Menschen, das lässt auch uns nicht kalt»
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Die Verdachtsfälle werden nach der Überprüfung immer in die vier Kategorien «sicher», «wahrscheinlich», «möglich» oder «unwahrscheinlich» eingestuft.  Christoph Küng räumt ein, dass die Mehrheit aller Meldungen zur Corona-Impfung bisher nur ein «möglich» erhalten haben. So auch jene der Familie Hirt.

Für den daraus resultierenden Unmut der Betroffenen hat Küng von Swissmedic viel Verständnis. Da sie den zeitlichen Zusammenhang zwischen Impfung und Erkrankung unmittelbar erlebt hätten, sei der Fall für sie viel eindeutiger. Er verweist aber darauf, dass die Fachexperten viel mehr Information in die Beurteilung einfliessen lassen müssen.  

Rangliste der schwerwiegenden Nebenwirkungen 

Wichtig sei auch die Anzahl der Verdachtsmeldungen. Treten viele ähnliche Meldungen auf, gibt das ein sogenanntes Sicherheitssignal. Swissmedic hat für SRF die am häufigsten gemeldeten und ausgewerteten Verdachtsfälle zusammengetragen. Auf der aktuellen Rangliste der schwerwiegenden Nebenwirkungen zuoberst: Fieber, Kopfschmerzen und Schüttelfrost.  

Grafik der Nebewirkungen
Legende: Rangliste der schwerwiegenden Nebenwirkungen SWISSMEDIC

Familie Hirt wartet vergeblich auf Anerkennung

Sehr seltene Syndrome wie das Pots von Corinne und Cedric Hirt gehen in der Rangliste unter, weil sie so selten sind. Den Vorwurf von Familie Hirt an Swissmedic, die Behörde würde die Fälle zu defensiv bewerten und sei den Ursachen zu wenig auf den Grund gegangen, bestreitet Christoph Küng: «Bei diesen beiden Meldungen haben wir sehr viele Informationen bekommen. Viel mehr kann man fast nicht abklären.»

Ein eindeutiges Urteil sei ohnehin bei solchen seltenen Syndromen besonders schwierig, weil es für diese Krankheit auch viele andere Ursachen gebe. Swissmedic würde dann eher mit der Anzahl Meldungen arbeiten, um so ein Muster herauslesen zu können. Von Einzelfällen auf alle zu schliessen, sei enorm schwierig.

Wir haben uns alle geimpft und die Solidarität gelebt und da müsste man jetzt mindestens unsere Lage anerkennen und uns mit den notwendigen Therapien unterstützen.
Autor: Corinne Hirt

Corinne und Michael Hirt glauben, dass es noch mehr Fälle wie ihre gebe, diese aber vielleicht nicht gemeldet wurden. Unterdessen hat sich der Zustand von Corinne Hirt wieder verschlechtert. Sie begann eine Therapie mit einem neuen Medikament, auf das sie schlecht reagierte. Sie erlitt einen Rückfall und musste sogar hospitalisiert werden.

Als es darum ging, den Reha-Aufenthalt zu bezahlen, weigerte sich ihre Krankenkasse zuerst. «Wir haben uns alle geimpft und die Solidarität gelebt und da müsste man jetzt mindestens unsere Lage anerkennen und uns mit den notwendigen Therapien unterstützen», sagt Hirt. Unterdessen hat die Krankenkasse eingelenkt.

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«Wut, Frust und Ärger habe ich hinter mir gelassen und schaue nach vorne»
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Beim Besuch im Zürcher Rehazentrum Wald sitzt das Paar auf einer Parkbank. Die Blicke schweifen in die Weite. Corinne Hirt muss nach dem Rückfall die verlorenen Kräfte wieder suchen und aufbauen. «Ich schaue nach vorne. Es ist die einzige Möglichkeit, um aus diesem Sumpf herauszukommen». Sie sei überzeugt, dass sie es diesmal schaffe. Sie dürfe einfach das Vertrauen nicht verlieren. 

Eine klare Heilungsprognose gibt es für Corinne Hirt und ihren Sohn nicht. Ob sie je für Impfschäden Genugtuung erhalten, ist momentan völlig offen. 

SRF 1, Puls, 04.04.2022, 21:05 Uhr

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