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Betroffene in der Pflicht Operieren oder nicht? So lassen sich unnötige Eingriffe vermeiden

Unnötige Operationen sind Realität. Wegen Operationsdruck in Spitälern, aber auch wegen unrealistischen Erwartungen von Patientinnen und Patienten. Was es bei einer OP-Entscheidung zu beachten gilt.

Claudia Bertino wurde von ihrem Hausarzt in eine spezialisierte Schilddrüsen-Sprechstunde in ein Zürcher Spital geschickt. Dort sollte abgeklärt werden, ob ihre erhöhten Schilddrüsen-Werte mit Medikamenten behandelt werden müssen. Doch was sie hörte, warf sie aus der Bahn: «Der Arzt riet mir, meine Schilddrüse zu entfernen. Am besten sofort».

OP-Bedenken nicht ernst genommen

Ihre Bedenken, die Schilddrüse zu verlieren und danach ein Leben lang Ersatz-Hormone schlucken zu müssen, wurden als «esoterisch» abgetan. Die Medikamente einzunehmen, sei keine grosse Sache, so der Arzt. Claudia Bertino fühlte sich als Patientin nicht ernst genommen und wollte Bedenkzeit.

Bei einem späteren Gespräch mit dem behandelnden Arzt, erklärte dieser beiläufig, dass Spitäler jährlich eine gewisse Anzahl Operationen durchführen müssten, um OP-Bewilligungen nicht zu verlieren. Das sei auch bei Schilddrüsen-Operationen der Fall. Es war Oktober und Claudia Bertino kam nicht umhin, sich zu fragen: Ist in diesem Spital womöglich ein OP-Druck da, weil es noch nicht auf die Mindestfallzahlen für das laufende Jahr gekommen ist?

Zweitmeinung kann weiterhelfen

Sie holte sich eine Zweitmeinung. Tatsächlich sah der zweite Spezialist keinen Grund, ihre Schilddrüse zu entfernen. Im Gegenteil: «Er erklärte mir, in der Schweiz würden 80 Prozent der Schilddrüsen unnötigerweise herausgenommen», erinnert sich die Zürcherin. In Deutschland etwa stehe man solchen Operationen bei gutartigen Veränderungen unterdessen sehr kritisch gegenüber, hiess es weiter.

Stattdessen schlug ihr der Zweitmeinungsarzt eine sogenannte Thermoablation vor. Eine neuartige fokale Therapie, die ambulant durchgeführt wird, und bei der keine Entfernung der Schilddrüse nötig ist. In diesen Eingriff willigte die Patientin schliesslich ein. Auch wenn es ihr heute gut geht: Claudia Bertino ärgert sich darüber, dass der erste Arzt diese Therapie-Option nicht einmal erwähnt hatte – weil sie an seinem Spital nicht angeboten wurde.

Alternativen gehören ins Aufklärungsgespräch

«Solche Alternativen gehören in ein Aufklärungsgespräch», ist Franziska Sprecher, Expertin für Gesundheitsrecht an der Universität Bern, überzeugt. «Auch, wenn ein Arzt sie nicht selber anbietet.

Die Schweiz kenne – im Gegensatz zu Deutschland – keine Pflicht der Ärzteschaft, auf eine Zweitmeinung hinzuweisen. Aber: «Die Patientinnen und Patienten haben das Recht auf eine Zweitmeinung, das wird auch von den Versicherungen bezahlt. Je komplexer der Eingriff, je grösser die Auswirkungen auf das eigene Leben sind, desto eher ist das empfehlenswert».

Unnötige Operationen in der Schweiz? – Basel wollte es wissen

Wird in der Schweiz zu viel operiert? Internationale Schätzungen lassen vermuten: Auch hierzulande könnten bis zu 20 Prozent aller Gesundheitskosten  unnötig sein. Exakte Zahlen für die Schweiz gibt es aber nicht. Trotzdem: Lars Clarfeld vom Verein Smarter Medicine, der sich gegen Über- und Fehlbehandlungen einsetzt, ist überzeugt: «Ja, es gibt unnötige Eingriffe und jeder ist einer zu viel.»

Die Basler Behörden wollten sich davon ein Bild machen: Alle stationären Behandlungen der regionalen Spitäler aus dem Jahr 2016 wurden dafür statistisch analysiert. Das Ergebnis: Rund 8000 stationäre Fälle waren vermutlich unnötig – das Resultat einer Überversorgung. In den Fokus kamen besonders Eingriffe am Bewegungsapparat, der Bereich Hals-Nasen-Ohren-Chirurgie oder Behandlungen der Herzkranzgefässe.

Thomas von Allmen, Leiter der Spitalversorgung Basel-Stadt, wünscht sich weniger Fehlanreize im Gesundheitswesen, wie etwa Bonus-Zahlungen für Chirurgen, die viel operieren. Oder weniger finanzielle Anreize zur Behandlung von Zusatzversicherten. In der Spitalregion Basel gelten inzwischen Obergrenzen für bestimmte Eingriffe. Spitäler, welche die Grenzen überschreiten, müssen dies begründen. Das Ziel: Es soll nur gemacht werden, was wirklich nötig ist.

Chirurgen bevorzugen Selbstkontrolle

Auf Chirurgen-Seite werden unnötige Eingriffe eher als Einzelfälle betrachtet. Nicht Gier oder böser Wille sollen die Ursache sein, sondern allenfalls Ärzte, die nicht auf dem neusten Stand sind. Oder gar Patienten, die auf einem Eingriff beharren. Das beste Mittel gegen Überbehandlungen sei Selbstkontrolle, zum Beispiel durch Qualitätsstandards der Fachgesellschaften, Fall-Register, Weiterbildungen. So soll die Indikations-Qualität stetig verbessert werden: Sorgfältig begründete Eingriffe senken das Risiko für unnötige Operationen.

Staatliche Steuerungsmassnahmen hingegen stossen bei der Ärzteschaft auf Skepsis. Man befürchtet Sparzwänge und unsachgemässe Einmischung. Mazda Farshad, der Qualitäts-Verantwortliche von Swiss Orthopaedics sieht es so: «Grundsätzlich sind gewisse Regulatoren natürlich sinnvoll, aber die müssen auf Vernunft und Evidenz basieren und nicht zufällig entstehen.»

Massnahmen können einschneidend sein, zeigt ein Beispiel aus Deutschland:  Weil es laut Studien kaum etwas bringt, Abnützungsprobleme im Knie minimalinvasiv zu behandeln, hat man dort entsprechende Therapien aus der Kassenpflicht gekippt. Bei der Frage, ob das richtig oder falsch ist, scheiden sich die Geister.

Nachweisen, dass Eingriffe etwas nützen

Konflikte und Grabenkämpfe sind bei einem Thema, das sehr viele Interessen berührt, also automatisch vorprogrammiert. Der Weg geht heute in Richtung «evidenzbasierte Chirurgie»: Die Wirksamkeit von Eingriffen soll wissenschaftlich belegt sein.

Bei Medikamenten ist das schon länger normal. Was die Chirurgie betrifft, sieht Gesundheitsrechts-Expertin Franziska Sprecher Nachholbedarf: «Hinterfragen, ob alle Eingriffe wirklich notwendig sind – das wird bis jetzt in der Schweiz mit grosser Zurückhaltung gemacht.» Im Ausland sei das hingegen schon durchaus normal.

Patientinnen und Patienten sollten aktiv sein

Unnötig operiert zu werden ist aus Patientensicht immer schlecht, denn jeder Eingriff birgt Risiken.  Der Verein «Smarter Medicine» will deshalb gegen Überbehandlungen ankämpfen. Eine aktuelle Kampagne richtet sich an die Patientinnen und Patienten. Denn auch sie haben es in der Hand, unnötige Operationen zu vermeiden.

Tipps für einen guten OP-Entscheid

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Wer vor einem Operations-Entscheid steht, hat oft viele Informationen zu verarbeiten. Es ist schwierig, den Überblick zu behalten. Das Ziel sollte sein, am Ende die Entscheidung aktiv zu fällen, gemeinsam mit dem Arzt oder der Ärztin. Die folgenden Fragen und Tipps helfen auf diesem Weg:

  • Bei Gesprächen begleiten lassen: Eine Begleit-Person bei wichtigen Gesprächen ist sehr zu empfehlen, denn vier Ohren hören mehr als zwei. Auch Notizen sind hilfreich.
  • Zweitmeinung einholen: Es ist sehr wichtig, dem Arzt oder der Ärztin zu vertrauen. Wenn aber Aufklärungsgespräche vor einer Behandlung bleibende Unsicherheiten hinterlassen, ist es sinnvoll, eine Zweitmeinung einzuholen.
  • Eigenen Willen äussern, Entscheide zurücknehmen: Selbst wenn man eine Operations-Einwilligung unterschrieben hat, kann man den Entscheid noch zurücknehmen, sogar noch kurz vor der Narkose. Hören Sie also im ganzen Behandlungs-Prozess auf Ihr Bauchgefühl.

Der Verein «Smarter Medicine» empfiehlt in seiner aktuellen Kampagne fünf Standard-Fragen vor einem Behandlungs-Entscheid:

  • Gibt es verschiedene Behandlungs-Möglichkeiten? Vielleicht sagt Ihnen eine andere Methode mehr zu als die zuerst vorgeschlagene.
  • Welche Vor- und Nachteile hat ein Eingriff? Oft richtet man die Aufmerksamkeit mehr auf Vorteile einer Behandlung und lässt Nachteile, zum Beispiel eine lange Rehabilitationsphase, ausser Acht.
  • Wie wahrscheinlich sind diese Vor- und Nachteile? Man sollte versuchen, für sich selbst Erfolgs-Chancen und mögliche Risiken so realistisch wie möglich einzuschätzen.
  • Was passiert, wenn ich nichts unternehme? Es kann je nach Problematik sein, dass Beschwerden auch von selbst wieder verschwinden.
  • Was kann ich selbst tun, um wieder gesund zu werden? Manchmal lösen aktive eigene Massnahmen das Problem, zum Beispiel körperliches Training oder eine Ernährungsumstellung.

Ein offenes Arzt-Patienten-Verhältnis spiele dabei eine zentrale Rolle, so Lars Clarfeld: «Das Vertrauensverhältnis ist extrem wichtig, weil ich dann auch das Vertrauen habe, Fragen zu stellen, um die richtigen Entscheidungen treffen zu können.»  Es lohne sich, vorbereitet in Aufklärungsgespräche zu gehen.

Nachfragen bei der Ärzteschaft lohnt sich

Andreas Borter würde sich selber als informierten Patienten bezeichnen. Als langjähriger Organisationsberater war er es sich gewohnt, heikle Gespräche zu führen und kritische Fragen zu stellen, auch bei Ärztinnen und Ärzten. «Manchmal muss man nochmals einen Termin für ein Anschlussgespräch verlangen», rät er, um zu allen Informationen zu kommen, die nötig sind.

Bei ihm stellte sich die Frage: Prostata-Krebs operieren? Und wenn ja: wo und wie? Zwei Ärzte waren zu unterschiedlichen Einschätzungen gekommen: Sein Arzt am Inselspital hatte ihm eine Prostata-Operation von Hand vorgeschlagen, durch einen Chirurgen. Sein Zweitmeinungsarzt am Unispital Zürich empfahl ihm eine Roboter-Operation. Beide mit guten Argumenten. 

Manchmal sind es auch Bauchentscheide

«Meine Erfahrung ist, dass es die ‹objektiv richtige medizinische Entscheidung› nicht immer gibt», erklärt Andreas Borter. «Als Patient muss man selber mitdenken, überlegen, was zu einem selber passt. Mehr Bauch-, weniger Kopfentscheid.».

Unterstützung bei medizinischen Entscheiden

Auch wichtig: «Habe ich Vertrauen in die ärztliche Person, der ich mich ausliefere? Welche Fragen sind für mich noch offen?» Damit müsse sich jeder Patient auseinandersetzen, meint Andreas Borter. Bei ihm war es am Ende ein Bauchentscheid. Für die Operation war ihm der Arzt lieber als der Roboter.

Puls, 10.10.2022, 21:05 Uhr

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