«Häsch dini Ovo hüt scho gha?» ist für viele nicht nur Werbespruch, sondern hinterlässt eine wohlig-warme Erinnerung an die Kindheit. Wie der Spritzer Maggi in der faden Suppe oder die Packung Stocki im Vorratsschrank. Fertigprodukte Swiss Made – klare Sache.
Was vielen Konsumentinnen und Konsumenten gar nicht so klar ist: Fast 80 Prozent ihrer Lebensmitteleinkäufe stammen aus der Industrie und sind mehr oder weniger stark verarbeitet. Dazu zählen Teigwaren ebenso wie ultraverarbeitete Produkte wie beispielsweise Mikrowellengerichte. «Vorgefertigte Produkte», sagt die Ernährungsexpertin Christine Brombach, «sind aus dem Alltag nicht mehr wegzudenken.» Ist das schlimm?
Corona als Convenience-Booster
Im vergangenen Jahr haben zwar viele Menschen das Kochen und Backen wiederentdeckt, aber Corona war auch ein Convenience-Booster: Blickt man auf die Zahlen der Schweizer Marktprognose, war 2020 das Jahr der schnellen Speisen. So lag der Jahresumsatz pro Kopf bei über 136 Franken allein für Fertiggerichte und Suppen. Ein deutlicher Anstieg – davor blieb der Umsatz über acht Jahre relativ stabil.
Verzehrfertig in vier Minuten
Den grossen Boom an Convenience-Food erlebte die Schweiz in den 1960er- und 1970er-Jahren. Als die Erwerbsquote der Frau in der Schweiz sprunghaft anstieg, musste das Zmittag schnell gehen. Auch die Gemeinschaftsverpflegung in Kantinen wurde wichtiger.
Durchschnittlich 38 Minuten dauert es heute, bis das Essen fertig zubereitet auf dem Tisch steht. Weil ein Teil der Arbeit bereits in der Fabrik passiert, verkürzt sich die Zeit am Herd. Kartoffelstock aus der Tüte ist so schon in vier Minuten fertig – ein Tempo, das beim Selbermachen vielleicht gerade fürs Rüsten der rohen Kartoffeln reicht.
Ultraverarbeitet – ultradick?
Was nach Glück für Köchinnen und Köche klingt, tönt bei Ernährungsmediziner David Fäh gefährlich: «Es gibt einen Zusammenhang zwischen ultraverarbeiteten Lebensmitteln und Adipositas.»
Sind es also nicht allein Fett und Zucker, die dick machen, sondern die vielen Schritte in der Fabrik? Darauf deuten zumindest neuere Studien hin.
David Fäh berichtet von einem Experiment aus den USA : Nachdem die Teilnehmenden sich zwei Wochen nur von Fertigprodukten ernährt hatten, nahmen sie im Schnitt ein Kilogramm zu. Die andere Gruppe, die nur frische und kaum verarbeitete Lebensmittel konsumierte, nahm durchschnittlich ein Kilogramm ab.
Die 20 Probanden waren leicht übergewichtig und bekamen zwei Wochen lang Lebensmittel mit dem gleichen Nährwert zu essen – also die gleiche Menge an Kalorien, Zucker, Kohlenhydraten, Fett und Nahrungsfasern. Nur im Grad der Verarbeitung unterschieden sich die Mahlzeiten.
Immer wieder hungrig
Der Grund für die Gewichtszunahme bei den Probanden: Die Lebensmittelfabriken erledigen nicht nur einen Teil der Arbeit in der Küche, sondern auch für den Körper. Ultraverarbeitete Lebensmittel sind sozusagen vorverdaut.
«Man kann es schneller essen und muss nicht viel kauen», sagt Experte Fäh. Wer nur noch schluckt, gibt dem Magen weniger zu tun. Ein Körper, der weniger verdaut, verbraucht weniger Kalorien. Und wenn das Sättigungsgefühl fehlt, verlangt der Körper nach mehr Essen.
«Man isst auch mehr, wenn es stärker gesalzen ist», erklärt David Fäh. Im Falle von Fertigprodukten eine ungesunde Mischung, denn Geschmacksverstärker fördern den Konsum. «Darum führen die ultraverarbeiteten Lebensmittel zu einem Kalorienüberschuss.»
Für den Ernährungsmediziner und Dozenten an der Berner Fachhochschule das Hauptproblem von Convenience-Food. Zu viel davon schadet dem Stoffwechsel.
Convenience-Food als Teil der Kultur
«Klar, man kann das alles allein auf Convenience-Produkte schieben», widerspricht Christine Brombach. «Das wäre aber eine kulturpessimistische Haltung.» Für die Dozentin an der ZHAW ist Convenience-Food Teil des Kulturwandels – und nicht per se schlecht.
Sie sagt: «Ich muss heute wissen, wie ich es kombiniere, was ich wo kaufe, wie ich die Nährstoffe hinten auf der Verpackung interpretiere.» Die Köche von heute leisten im Zweifel also nicht weniger als die Köchinnen von damals. Verändert sich einfach die Kunst des Kochens?
Wandel der Kochkultur
Gerüsteter Salat aus der Plastiktüte mit fertig angerührter Salatsauce wäre noch für die Grosselterngeneration undenkbar gewesen, meint Brombach: «Aber heute lege ich gar keinen Wert mehr darauf, mich stundenlang in die Küche einzuschliessen und nur Essen aufzutragen.»
Kochen sei heute ein gemeinsames Erlebnis: «Die offene Wohnküche lädt geradezu ein, mit Freunden zusammen zu kochen», sagt die Ernährungswissenschaftlerin. «Man sucht eine andere Zubereitungsart.»
Bequem, besser, bio
Mittlerweile sind Convenience-Produkte auf dem Markt ein Milliardengeschäft und weit mehr als Kartoffelpulver oder Fertigsuppen. «Die Produkte verändern unseren Umgang mit Lebensmitteln. Und das meine ich werteneutral», sagt Brombach.
Frisches Fertigessen wie das von Betty Bossi kam in den 1980er-Jahren in die Läden. Heute kommt das Essen bis zur eigenen Haustür: als abgepackte Zutaten plus Rezept in der Kochbox oder als fertiges Menü im isolierten Rucksack des Velokuriers. «Wir bringen heute ohne Probleme Bio und Convenience zusammen», beschreibt Brombach den Kulturwandel. «Das war vor 30 Jahren etwas, was sich ausgeschlossen hätte.»
Für Ernährungsmediziner David Fäh immer noch ein Spagat. Selbst beim Zmittag im angesagten Vegi-Restaurant fällt ihm sofort auf, wie viele stark verarbeitete Produkte angeboten werden.
Vegan heisst nicht wenig verarbeitet
«Dessen muss man sich bewusst sein», warnt er, «nur weil es bio, glutenfrei oder vegan ist, ist es nicht automatisch besser, was die Verarbeitung betrifft.» Für die Konsumentinnen und Konsumenten sei der Grad der Verarbeitung kaum zu erkennen.
Den Trend zu veganen Fertigprodukten sieht Fäh kritisch: «Aus ethisch-moralischen Gründen verstehe ich das ja, aber aus gesundheitlichen Gründen würde ich das nicht grundsätzlich empfehlen.» Gerade Fleischersatzprodukte seien ultraverarbeitet.
Erkennbar ist das an der Zutatenliste: «Wenn die mehr als fünf Zutaten enthält, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass das Produkt ultraverarbeitet ist.»
Ganz sicher wissen, was im Essen drinsteckt, kann nur, wer es selbst zubereitet. «Mit frischen und qualitativ hohen Rohstoffen», sagt Fäh. Der Ernährungsmediziner probiert gerne neue Gerichte aus – mit selbst angebautem Gemüse aus seinem Schrebergarten in Basel.
Schweiz gut im europäischen Vergleich
In den Genuss eines eigenen Gemüsegartens kommen nur wenige Schweizerinnen und Schweizer. Die zunehmende Verstädterung entfremdet uns eher von der Natur. Der Blick auf Europa zeigt aber auch, dass die Schweizer Küche vergleichsweise gut wegkommt: Der Anteil ultraverarbeiteter Speisen wie Mikrowellengerichte oder auch Süssigkeiten liegt hierzulande bei 26 Prozent, in Deutschland oder Grossbritannien ist er fast doppelt so hoch.
Nur die Mittelmeerstaaten bevorzugen frischere Speisen. Fäh deutet das als Zeichen der Esskultur. Wo selbst zubereitetes Essen einen höheren Stellenwert hat, kommt weniger Essen aus der Fabrik auf den Tisch.
Wie viel Industrie wird in der Schweizer Esskultur der Zukunft stecken? «Das ist schwer abzuschätzen», meint Christine Brombach. Es werde sicher mehr Convenience-Produkte geben, aber die Ernährungswissenschaftlerin beobachtet auch Gegenbewegungen.
In den Sozialen Medien sei Kochen ein Hauptthema. Im Corona-Jahr 2020 war es hip, selber Sauerteigbrot zu backen oder das übriggebliebene Gemüse zu fermentieren .
Prognose: mit dem Paradox leben
Einen Selbermachen-Trend will sie aber nicht ausmachen: «Wir sind da ja nicht konsistent», sagt Brombach und spricht von «unterschiedlichen Welten», in denen wir uns bewegen: Morgens die Fertig-Müesli-Mischung, mittags schnell ein Sandwich auf die Hand, abends aber dann gemeinsam mit Freunden kochen.
Wofür wir uns entscheiden, bestimmt die Zeit: Oft soll das Essen schnell gehen, es soll gesund sein und dabei noch schmecken. «Wir leben mit diesen Paradoxien», sagt Brombach. «Da wird es immer Phasen geben, wo man Kompromisse machen muss, wo Convenience-Produkte ihren Platz haben.»
Am Ende ist es wie so oft: Die Mischung macht's. Und manchmal gibt es eben nichts Besseres als eine Tasse heisse Ovo – im besten Fall gibt es das nächste Mal selbstgemachtes Birchermüesli mit Apfelschnitz dazu.