Gestresst sein, sich gestresst fühlen, ist für viele Schweizerinnen und Schweizer nicht einfach gewohnheitsmässiges Kokettieren mit der eigenen Wichtigkeit und Belastbarkeit, sondern erlebte Realität. Die Belastung wirkt sich auf Körper und Psyche aus und zehrt auf allen Ebenen an den Reserven – mitunter mit tragischen Folgen.
Was hat es mit dem Stress am Arbeitsplatz auf sich, wie geht man am besten damit um? «Puls» hat sich mit Stresscoach Rolf Victor Heim unterhalten.
SRF: Immer häufiger ist von «Stress am Arbeitsplatz» die Rede. Ist das nur ein Medienhype, oder hat die Belastung tatsächlich zugenommen?
Dr. Rolf Victor Heim: Tatsächlich zeigen diverse Befragungen, unter anderem jene des Staatssekretariat für Wirtschaft aus dem Jahr 2010 , dass über 85 Prozent der Berufstätigen über Stress klagen – fast 35 Prozent häufig bis sehr häufig. Das ist sehr hoch. Zudem lässt sich beobachten, dass die Belastungen immer noch am Steigen sind: Laut der Seco-Studie hat der mässige Stress leicht abgenommen (-4%), der hohe Stress aber deutlich zugenommen (+7%). Und natürlich klagen gestresste Mitarbeitende deutlich häufiger über verschiedene körperliche und psychische Beschwerden.
Zieht sich das durch alle Berufsgruppen?
Während in den 90er-Jahren gewisse Berufsgruppen (z.B. Sozialarbeiter, Lehrer, Manager) häufiger betroffen waren, sehen wir heute wenig Unterschiede zwischen den verschiedenen Berufen. Wohl aber zeigen sich das Alter und damit auch die Berufserfahrung als Schutz vor Stresserleben: Ältere Mitarbeitende erleben im allgemeinen seltener Stress.
Wo ziehen Sie die Grenze zwischen normaler Belastung im Job und ungesundem Stress?
Natürlich ist nicht jede Belastung sofort mit Stress gleichzusetzen. Von negativem Stress (Dysstress) spricht man, wenn durch die Belastung Beschwerden entstehen, körperlich oder psychisch. Das können etwa Schlafstörungen, Herz- oder Verdauungsbeschwerden sein. Zudem kann Stress akut auftreten und rasch wieder abklingen, bei saisonalen Schwankungen bezüglich Arbeitsvolumen beispielsweise. Oder aber die Stressbelastung kann chronisch werden, über Monate bis Jahre.
Wie kann ich an mir selber feststellen, dass ich ungesundem Stress ausgesetzt bin?
Leider verpassen es viele Menschen, sich regelmässig diese Frage zu stellen. Nur so lässt sich erklären, dass heute noch, nach Jahren der Aufklärung in diesem Bereich, immer noch Betroffene mit einer schlechten Energiebalance unter Umständen monatelang leiden. Tatsächlich lässt sich mit sehr wenig Aufwand – 10 bis 15 Minuten wöchentlich oder monatlich – feststellen, wo man steht.
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Kurz gesagt geht es um eine Standortbestimmung in vier Bereichen: körperlich, mental/gedanklich, emotional und sozial. Man beurteilt jeden Bereich für sich selbst und gibt sich eine «Note». Als Notenskala empfiehlt sich von 1 bis 10, wobei 10 «völlig zufrieden» und 1 «völlig unzufrieden» bedeutet. Im Normalfall sollte man etwa bei 7 liegen.
Auf welche Warnzeichen sollten Vorgesetzte achten?
Zum Glück zeigt fast jeder Mensch, dass er erhöht belastet ist. Gleichzeitig können die Signale sehr individuell sein; es lohnt sich also, den Mitarbeiter zu kennen und ihn auch wahrzunehmen. Gerade stressbelastete Vorgesetzte tun sich damit schwer. Anzeichen können sein: Nachlassen von Leistung und Engagement, Zunahme von Fehlern, häufigere Absenzen, aber auch Überzeiten (wenn der Mitarbeiter versucht, seine Leistung durch Mehrarbeit auf demselben Niveau zu halten), sozialer Rückzug (Kaffee-Pause, Mittagessen), vermehrtes Reklamieren bis hin zu aggressiven Ausbrüchen, körperliche Beschwerden, erhöhte Infektanfälligkeit, Klagen allgemein.
Oft haben Angestellte keine Möglichkeit, etwas an Arbeitszeiten, Abläufen oder Umfeld zu ändern. Was empfehlen Sie Leuten, die in einer «Tretmühle» stecken?
Schliesslich geht es um die eigene Gesundheit. Das heisst, wenn man sich in eine Opferrolle begibt mit der Begründung, «eh nichts ändern zu können», kommt man leicht auf die schiefe Bahn, gesundheitlich gesprochen. Konkret bedeutet dies: Wer sich unwohl fühlt und die eigenen Möglichkeiten zur Verbesserung des Zustandes ausgeschöpft hat, sollte dringend mit dem Vorgesetzten sprechen.
Wenn man denkt, ‹eh nichts ändern zu können›, kommt man leicht auf die schiefe Bahn.
Wir beobachten immer wieder, dass in solchen Gesprächen Lösungen gefunden werden, von denen die Betroffenen vorher nicht zu träumen wagten. Deutlich schwieriger wird es, wenn der Vorgesetzte selbst das Problem ist – was doch auch immer wieder vorkommt. Möglicherweise hilft dann ein Gespräch mit der Personalabteilung oder dem nächst höheren Vorgesetzten. Aber einfach wird das nicht.
Leute in verantwortungsvollen Positionen tendieren dazu, den Stress im Job durch exzessiven Sport ausgleichen. Ist das eine gute Idee?
Es gibt viele Stressbewältigungsstrategien, die geeignet sind, Sport ist eine davon. Allerdings sollten auch diese Techniken weder fanatisch noch ausschliesslich ausgeführt werden. Es braucht eine gute Mischung von körperlicher, sozialer, emotionaler und geistiger Abwechslung.
Auch hier empfiehlt es sich, eine persönliche Auslegeordnung zu erstellen. Wo liegen die grossen Belastungen? Wie erhole ich mich am schnellsten und ganzheitlichsten? Sicher sind Gespräche mit Vertrauten sehr zu empfehlen, dazu Sport ohne Extreme, Entspannung geistig und körperlich (zum Beispiel Meditation, Wellness).
Zudem hat sich gezeigt, dass ein harmonisches Familien- und Sexualleben sehr gute Stresspuffer sind. Es lohnt sich also, bei der Karriereplanung auch an das Energiemanagement zu denken und darin zu investieren.