Es gibt Krankheiten, die nicht nach Krankheit aussehen. Bei Tea gleicht ihre Erkrankung einem Tanz. Das Problem: Téa tanzt nicht – sie folgt einem Ritual, das ihr der eigene Kopf aufzwingt. Sie muss auf jede Ritze im Asphalt treten, auf heruntergefallenes Laub, auf die Kante der gelben Zebrastreifen.
Beim Gehen versuche ich, Nummern mit drei gleichen Zahlen hintereinander zu finden, um mir etwas wünschen zu können.
Damit nicht genug: «Beim Gehen versuche ich, Nummern mit drei gleichen Zahlen hintereinander zu finden, um mir etwas wünschen zu können. Dort unten ist ein Motorradschild mit drei gleichen Zahlen, 70555. Jetzt muss ich die Finger kreuzen, mir etwas wünschen und dann meinen Speichel schlucken», beschreibt Téa die Abläufe.
Auch daheim läuft alles nach ihrem ureigenen Schema ab. Bevor sie abends ins Bett geht, kontrolliert sie, dass sich die Dinge im Regal nicht berühren, dass die Schrankschlüssel in einem speziellen Winkel im Schloss stecken, alle Schränke und das Spülmittel geschlossen sind.
Selbst fernsehen geht nicht einfach so. «Ich lese alles, was im Bild ist, alles, was fix bleibt, dann die Marke des Fernsehers, dann schlucke ich meinen Speichel, berühre meine fünf Finger, dann noch einmal, dann schlucke ich erneut meinen Speichel und lese alles noch einmal, danach bin ich fertig – und das passiert mir vielleicht zehnmal während des Films», erzählt Téa.
Zwänge als Vertraute
Für die heute 17-Jährige sind ihre Zwänge vertraute Begleiter geworden, seit sie mit zwölf zum ersten Mal auftraten. Ihre Familie hat sich erst gegen sie gewehrt und versucht, Téa durch absichtlich hergestelltes Durcheinander davon zu überzeugen, dass etwas weniger Struktur keine schlimmen Folgen hat – für Téa eine Tortur. Denn wenn sie ihre Zwänge nicht ausführen kann, findet sie keine Ruhe und hat Angst, dass deswegen Nahestehenden oder gar der Welt ein grosses Unglück zustösst.
Heute hat sich ihre Familie mit der Zwangsstörung arrangiert. Denn für Téa selbst sind die zwanghaften Rituale nicht nur nervenaufreibende Zeitfresser, sie geben ihr auch Sicherheit vor ihren Ängsten.
Vielen Menschen mit Zwangserkrankungen geht es wie Téa – egal, ob sie einen Grossteil ihrer Zeit damit verbringen, sich zu waschen, alles nachzukontrollieren oder symmetrisch anzuordnen. All diese Handlungen haben zum Ziel, den Patienten von etwas Unsichtbarem zu entlasten: von obsessiven Gedanken, die von einer unerträglichen Bedrohung ablenken.
Zwei Prozent der Bevölkerung, etwa 120'000 Menschen in der Schweiz, sind betroffen, bei über einem Drittel beginnen die Zwangshandlungen bereits in der Kindheit, bei 43 Prozent als Jugendliche. Immerhin: Bei fast jedem Dritten bilden sie sich mit der Zeit zurück. Aber nur bei einem von drei verschwinden sie ganz ohne psychische Folgeerscheinungen.
Von einer Therapie profitieren zwei Drittel der Betroffenen: Ein Drittel wird geheilt, ein Drittel lernt, damit umzugehen, einem Drittel kann man aber nach den heutigen Methoden leider kaum helfen.
Herkunft der Zwänge ist unklar
Woher die Zwänge kommen, ist oft unklar. Genetik kann eine Rolle spielen, muss aber nicht. Das Gleiche gilt für die Erziehung oder traumatische Erlebnisse. Zwar kommen Zwänge familiär gehäuft vor, doch das lässt weniger den Rückschluss auf Vererbung zu als vielmehr darauf, dass Zwänge auch erlernbar sind, von den Eltern beispielsweise.
Téa zumindest hat ihren Zwängen den Kampf angesagt: Sie versucht nun, ihrer im Rahmen einer Therapie Herr zu werden.