Die Zeit um den ersten Weltkrieg war das Zeitalter der «Nervosität». Die Welt hatte sich massiv verändert: Der technische Fortschritt war gewaltig und der Mensch zugleich überfordert.
Die Kulturwissenschaftlerin Maria Hermes hat die Zeit vor und während dem ersten Weltkrieg aus psychiatrischer Sicht untersucht: «Die Menschen hatten grosse Schwierigkeiten, mit der neuen Geschwindigkeit zurechtzukommen, sie auszuhalten. Man wurde unruhig, konnte nicht mehr schlafen, war teilweise depressiv, ermattet, erschöpft.»
Stress als Statussymbol
Unter den Symptomen des beschleunigten Lebens litt vorab eine bürgerliche Schicht. Nervosität war gegen Ende des 19. Jahrhunderts und auch noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts etwas Hochmodernes – und durchaus Positives. «Wer sich als nervös bezeichnete, bewies damit auch, auf der Höhe der Zeit zu sein. Es war chic, nervös zu sein», weiss Maria Hermes.
Aber auch an der Arbeiterklasse ging der rasante technische Fortschritt nicht spurlos vorbei: Viele Tätigkeiten erfolgen plötzlich im Sitzen und waren durch die Mechanisierung monoton geworden.
Wer es sich leisten konnte, liess sich in einem «Erholungsheim für Nervöse» oder in einem Sanatorium behandeln. Weniger Begüterte konnten in Zürich darauf hoffen, in der entsprechenden Abteilung des Sanatoriums von Dr. Bircher-Benner (dem Erfinder des Bichermüeslis) Aufnahme zu finden.
Die verbreitete Diagnose lautete damals Neurasthenie. Die Nervenschwäche war das Burnout des Fin de Siècle und galt bis zum Ausbruch des 1. Weltkriegs durchaus als chic.
Im Krieg ist eine ruhige Hand gefragt
Im Krieg konnte dann aber niemand mehr eine unruhige, zitternde Hand am Abzug gebrauchen. Da waren absolute Ruhe und absolute Konzentration gefragt. Die Diagnose Nervenschwäche kam aus der Mode. Wer trotzdem nervös war, galt schnell als Hypochonder.
Erst mit dem Wirtschaftswunder ist die Nervosität wieder aufgetaucht und hat die Chefs in Form eines Magengeschwürs heimgesucht. Auch diese Managerkrankheit ist mittlerweile verschwunden und durch das Burnout unserer Tage ersetzt worden. Und das kann bekanntlich jeden treffen.