Zum Inhalt springen

Heilung oder Humbug Meditation mit Joe Dispenza – Lebenshilfe oder Geldmacherei?

Meditation war einst ein Weg, Frieden in sich selbst zu finden. Heute ist sie zum Massenevent geworden, bei dem Selbstverwirklichung bis zur Heilung schwerer Krankheiten versprochen wird. Beim Meditationsguru Joe Dispenza wird das zum Problem.

8100 Menschen strömten am ersten Novemberwochenende dieses Jahres in die St. Jakobshalle in Basel, um den amerikanischen Chiropraktiker, Autor und Dozentent Joe Dispenza live zu erleben. Und um gemeinsam mit ihm zu meditieren.

Laut dem Veranstalter Younity war es einer der grössten Meditationsanlässe, der jemals stattgefunden hat. Menschen aus 57 Nationen sollen an dem zweitägigen Retreat zusammengekommen sein. Die Hälfte der Anwesenden kam aus Deutschland angereist, 2500 Personen aus der Schweiz, der Rest aus Europa und sogar aus Übersee – obwohl die Ticketpreise hoch waren: 500 Franken kostete ein Silber-, 1000 Franken ein Goldticket.

Selbstverwirklichung ohne Anstrengung 

Dass dem Mann so viele Menschen folgen, dürfte an dem Versprechen liegen, das er an seine Meditationstechnik knüpft: «Be the creator of your life!» Du kannst alles werden, was du willst! Und das ganz ohne mühsame und langwierige Verhaltensänderung. Es reicht zu meditieren – natürlich unter «Dr. Joes» – wie er selbst und seine Anhänger ihn nennen – Anleitung, die er in Workshops und Retreats lehrt. Und unterstützt von seinen vertonten Kurzanleitungen, alles zu erstehen auf seiner Website.

Mann hält seine Hand gestikulierend hoch
Legende: Füllt riesige Hallen und macht grosse Versprechungen: der amerikanische Chiropraktiker, Autor und Dozentent Joe Dispenza IMAGO / GlobalImagens

Wer denkt, diese Kurzanleitungen seien ruhig gesprochene Anweisungen für eine kontrollierte Atmung und die Konzentration auf sich selbst, erschrickt erst einmal: Die Musik ist zwar sphärisch, aber oft laut und rhythmisch. Dispenza schreit, unterstützt von speziellen Sound-Effekten, Wörter wie «Space» oder «Remember». Für jede erfahrene Meditierende gewöhnungsbedürftig.

Online oder in seinen stundenlangen Workshops erfährt man, dass diese Meditationstechnik die Gehirnaktivität beeinflussen soll und dadurch das eigene Leben verbessert wird. Dafür wiederholt Joe Dispenza seine Theorien immer und immer wieder, zitiert dabei Altbekanntes aus der Medizin und der Psychologie wie zum Beispiel den Placebo-Effekt oder die selbsterfüllende Prophezeiung und vermischt sie mit seinen eigenen Theorien.

Wer ist Joe Dispenza?

Box aufklappen Box zuklappen

Joe Dispenza ist ein Chiropraktiker, Autor und Dozent aus den USA. Er lehrt Meditationstechniken, die die Hirnaktivität so verändern sollen, dass sich das eigene Leben verbessert. In Retreats und Workshops erklärt er in einer Mischung aus Frontalunterricht, Show und gemeinsamer Meditation seine Technik und wie sie angewendet werden soll. Dank seiner Meditation soll man sich selbst voll und ganz verwirklichen. Auch Heilungen von schweren Krankheiten wie Krebs seien möglich.  

Was Dispenza von anderen Meditationslehrern unterscheidet, ist die Mischung von Meditation, Spiritualität und Selbstoptimierung, deren Wirkung mittels Messung von Vitalparametern «bewiesen» sein soll. Die Wirkung seiner Meditationstechnik erscheint damit als «medizinisch erklärt und erwiesen», wie es Dispenza selbst sagt. 

Dabei betont er, dass das alles wissenschaftlich erwiesen sei, wobei er die Studien nicht klar zitiert. Um sichergehen, dass seine Inhalte bei seinem Publikum auch angekommen sind, holt er sich alle paar Minuten eine Bestätigung: «Are you with me?» Bist du dabei?

Geheilt von Krebs dank Meditation?

Das Ziel der Meditation von Joe Dispenza ist, sich vorzustellen, das erreicht zu haben, was man sich wünscht. Schon diese Vorstellung würde dem Gehirn das Gefühl geben, den Erfolg erlebt zu haben – dann kommen die positiven Veränderungen quasi automatisch ganz von allein. Oder anders gesagt: Mit seinen Gedanken und Gefühlen kann man sich in jene Version von sich hineindenken, die man eigentlich sein möchte, um sie dann auch zu werden – alles nur eine Frage der richtigen Form der Meditation.

Mitten im Kurs gaben sie den Genen ein Signal. Eine Frau sass mit MS im Rollstuhl, sie stand auf und hatte wieder Gefühle in den Beinen.
Autor: Joe Dispenza Amerikanischer Chiropraktiker, Autor und Dozent

Dispenza bedient damit gleich mehrere Trends: Jene der Individualisierung und Selbstverwirklichung und damit verbunden das Bedürfnis nach Lebenshilfe. Du willst erfolgreich sein? Fühl es, dann wirst du es. Du willst gesund sein und deinen Krebs besiegen? Auch das funktioniert laut Dispenza: «In unserem Workshop hatten sieben Leute eine Spontanremission», beteuert er online in seinem Vorbereitungsworkshop für das Retreat in Basel. «Mitten im Kurs gaben sie den Genen ein Signal. Eine Frau sass mit MS im Rollstuhl, sie stand auf und hatte wieder Gefühle in den Beinen.»

Auf Dispenzas Website erzählen unzählige Anhängerinnen und Anhänger in Testimonials von ihrer eigenen Heilung, die auch der Bibel hätten entspringen können: Blinde, die wieder sehen. Taube, die wieder hören.

Ob diese Spontanheilungen echt sind, ob sie gekauft wurden oder vielleicht doch das Resultat einer schulmedizinischen Therapie waren, lässt sich nicht überprüfen. Genauso wenig wie die Geschichte, die Joe Dispenza über sich selbst erzählt: Obwohl ihm die Ärzte gesagt hätten, er würde nie wieder gehen können, hätte er sich selbst aus dem Rollstuhl geholt. Welche Diagnose Dispenza genau hatte oder medizinische Unterlagen, die seine mirakulöse Geschichte beweisen würden, sind nicht auffindbar.

Worthülsen aus der Wissenschaft 

Generell ist es ausserordentlich schwierig, etwas über Dispenza herauszufinden. Nicht einmal einen Wikipedia-Eintrag hat dieser Mann, der alles tut, um den Eindruck eines seriösen Hirnforschers zu vermitteln, der die Wirkungsweisen seiner Meditation wissenschaftlich beweisen kann. Auch seine Anhänger argumentieren gerne mit der Wissenschaftlichkeit von Joe Dispenzas Lehren.

«Jede Person kann Forschung betreiben», so Isabel Hotz, Neurowissenschaftlerin an der Universität Zürich. «Problematisch wird es – und da zähle ich Joe Dispenza dazu –, wenn jemand seine Ausbildungen und Referenznotizen aufbläst.»

Tatsächlich hat Dispenza einen ungeschützten Doktortitel in Chiropraktik, jedoch von einer umstrittenen amerikanischen Privatuniversität, die immer wieder ihre Akkreditierung verliert. Einen geschützten medizinischen Doktortitel hat er nicht.

Quantenphysik als Placebo-Verstärker

Box aufklappen Box zuklappen

Für die wissenschaftliche Beweiskraft seiner Methode bedient sich Dispenza auch der Quantenphysik. Dieser Bezug ist nicht neu in der spirituellen Szene. Die Quantenphysik ist beliebt in esoterischen Kreisen, weil sie sich auf Zeit- und Längenskalen abspielt, die wir mit unseren Sinnen nicht erfassen können und weil wir für quantenphysikalische Eigenschaften keine Rezeptoren haben. Das öffnet viel Raum für Spekulationen. Auch gibt es in der Quantenphysik viele Terminologien wie die «spukhafte Fernwirkung», die zwar esoterisch klingen, aber eigentlich absolut nichts Mystisches an sich haben. 

Titus Neupert, Professor für Theoretische Physik an der Universität Zürich, winkt auch nur mit einem Lächeln ab, als er den Namen Joe Dispenza hört:  

«Als Physiker kann ich nur sagen, dass er keine wissenschaftliche Basis hat für das, was er da erzählt.» Man merke, dass Dispenza sich oft der quantenphysikalischer Terminologie benutzte. «Es sind Worthülsen, um zu verkomplizieren, was er sagen will. Er schafft damit die Illusion, dass es eine Erkenntnis gibt und einen tieferen Wirkmechanismen hinter dem, was er mit der Mediation anbietet.»   

Dann fügt Neupert noch hinzu: «Ich habe den Eindruck, dass hier die Quantenphysik herangezogen wird als Pseudowirkstoff für die Placebo-Wirkung.» 

Mit dieser vorgegebenen Wissenschaftlichkeit erreicht er auch ein modernes, gebildetes Publikum, das mit reiner Spiritualität oder Esoterik vielleicht nichts anfangen könnte. «Es zieht eben doch mehr, wenn er sagt, er sei Wissenschaftler und beweise auch, was er sage», so Isabel Hotz. «Die Leute können das nicht abschätzen und wenn ihnen ein ‹Doktor› Joe Dispenza so etwas sagt, dann wird das schon stimmen.» 

«Er fällt durchaus ins Feld der Religionswissenschaft» 

Nun kann man es durchaus positiv sehen, dass Joe Dispenza so vielen Menschen hilft, sich selbst zu verwirklichen. «Ein Guru ist nicht per se etwas Schlechtes», meint auch Dorothea Lüddeckens, Professorin für Religionswissenschaft an der Theologischen Fakultät in Zürich mit Forschungsschwerpunkt Religion und Medizin. «Immer dann, wenn er Menschen etwas anbietet, was eine Ressource fürs Leben ist, wirklich konstruktiv ihr Leben verbessert, dann ist das erst mal positiv.»

Während sich Neurowissenschaftlerin Isabel Hotz erst aufgrund der Anfrage von «Puls» mit Joe Dispenza beschäftigte, war er Lüddeckens bereits bekannt: «Er fällt nicht in das Feld der universitären Medizin, aber durchaus ins Feld der Religionswissenschaft, die sich eben mit Spiritualität und religiösen Sachverhalten beschäftigt.»

War es früher vielleicht eine Religion, die Hoffnung im Gebet und damit Lebenshilfe bot, so trendet heute eine neue, moderne Form von Spiritualität. Die Kirchen sind leer, aber Events wie die von Joe Dispenza sind ausverkauft. Sie sind es heute, die ein erfülltes Leben versprechen. Dagegen kann man, abgesehen von den teuren Tickets, wenig haben – bis es zu Heilversprechungen kommt. Die sind laut der Religionswissenschaftlerin Lüddeckens gefährlich.

Dispenzas Versprechen lautet: Wenn du meine Meditationstechniken anwendest, dann hast du das Potenzial für Heilung. «Und das ist ein Problem», erklärt Lüddeckens, «weil es mit Sicherheit auch viele gibt, die nicht geheilt werden». Das kann laut Lüddeckens zu einem Rückkopplungseffekt führen, der Schuldgefühle verursacht – im Sinne von «ich bin spirituell und geistig nicht ausreichend entwickelt». Oder es kommt noch schlimmer und es entsteht eine Spirale, die verhindert, dass medizinische Hilfe angenommen wird.  

Auch wenn Dispenza nirgends sagt, man solle auf Schulmedizin verzichten, so kann es doch so verstanden werden. Tatsächlich kommt es vor, dass die Anhänger voll und ganz auf die eigene Selbstheilung setzen und Schaden nehmen, wie ein Kommentar auf Facebook bestätigt: «Dank der Lehren von Dr. Joe Dispenza ist meine Tante kürzlich an Krebs gestorben. […] Meine Tante hat sich nicht in ärztliche Behandlung begeben, weil sie dachte, sie könne sich selbst heilen. Hätte sie sich rechtzeitig in ärztliche Behandlung begeben, hätte sie es geschafft.»

Interview nur bei voller Kontrolle über die Berichterstattung 

Es wäre interessant gewesen, Joe Dispenza persönlich kennenzulernen und ihn mit der gesammelten Kritik zu konfrontieren. Ein Interview mit «Puls» wurde zunächst zugesagt. Allerdings wurde es wieder abgesagt, nachdem «Puls» sich geweigert hatte, ein Agreement zu unterschreiben, welches Dispenza die volle Kontrolle über die Berichterstattung gegeben hätte. Wohl in der Erkenntnis, dass die Absage eines solchen Interviews einen schlechten Eindruck machen kann, bot sich das Management von Dispenza nach abgeschlossenen Dreharbeiten nochmals an, Fragen zu beantworten. Aber auch im zweiten Anlauf, dieses Mal mit schriftlichen Fragen per E-Mail, kam bis zum Redaktionsschluss der Sendung «Puls» keine Stellungnahme.

So hat auch «Puls» Joe Dispenza lediglich von Weitem gesehen – in der ausverkauften St. Jakobshalle, in der abwechselnd Party und meditative Stille war. Man fragt sich, warum Joe Dispenza nicht einfach auf seine Person, sein Charisma und seine Versprechen der Selbstverwirklichung setzt – ohne die fragwürdige medizinische und wissenschaftliche Untermalung. Aber vielleicht wären es dann eben keine 8100 Menschen gewesen in der Basler St. Jakobshalle und kein Umsatz von geschätzten 5.5 Millionen Franken.

Übrigens kann sich «Dr. Joe» jetzt schon auf den nächsten Geldsegen freuen: Sein Retreat in Basel kommenden Mai ist schon fast ausverkauft.

Sternstunde Religion, 10.12.2023, 10:00 Uhr

Meistgelesene Artikel