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Hirnzellen der dritten Art Multitaskende Hirnzellen: Schweizer Forscher finden neuen Zelltyp

Alzheimer, Parkinson, Epilepsie – eine neu entdeckte Gruppe von Hirnzellen spielt bei diesen Krankheiten eine Schlüsselrolle.

In unserem Gehirn herrscht strikte Arbeitsteilung. Die einen Hirnzellen sind die Quasselstrippen. Die andern sind die Handwerker. Während Neuronen kommunizieren, Signale verarbeiten und uns denken und fühlen lassen, halten Gliazellen die Infrastruktur aufrecht. Sie versorgen die Neuronen mit Nährstoffen und entsorgen den zellulären Müll.

Das war lange die Lehrmeinung. Doch jetzt gelang Schweizer Forschenden erstmals der Nachweis : Eine kleine Untergruppe von Gliazellen kann mehr als füttern, stützen und putzen. Andrea Volterra und sein Team haben diese spezielle Art von Astrozyten entdeckt, die nicht nur zudient, sondern aktiv an der Leistung unseres Gehirns beteiligt ist.

Gliazellen dirigieren das Konzert der Nervenzellen

Volterra ist Neurowissenschaftler an der Universität Lausanne und am Wyss Center für Bio- und Neuroengineering in Genf. Die von seiner Forschungsgruppe identifizierten Zellen seien mit Millionen von Synapsen verbunden, also mit jenen Strukturen, über die Nervenzellen Informationen austauschen. Diese Gliazellen dirigierten das komplexe neuronale Konzert mit Chemie. Konkret mit Glutamat, einem wichtigen, stimulierenden Botenstoff.

Modernste molekularbiologische Methoden machten diesen ersten direkten Nachweis möglich. Dazu gehört die Einzelzell-Transkriptomik, mit der sich die Aktivität der Gene jeder einzelnen Zelle vermessen lässt. In diesem spezifischen Fall zeigte sich: Die Zellen halten nicht nur die Infrastruktur für den Funkverkehr der Neurone aufrecht, sie reden auch selbst mit.

Das Ende widersprüchlicher Resultate

Seit bald zwanzig Jahren suchen Forschende nach solchen Gliazellen mit Spezialbegabung. Genauso lang ist auch die Geschichte widersprüchlicher Resultate. Denn weil’s verhältnismässig wenige Zellen sind, fand man sie manchmal und manchmal eben auch nicht.

Die Entdeckung eröffnet neue Perspektiven.
Autor: Christian Henneberger Gliazellforscher

Mit der Entdeckung aus der Westschweiz hat das Zweifeln ein Ende. Das freut Gliazellforscher wie den an der Studie nicht beteiligten Christian Henneberger von der Universität Bonn: «Damit endet eine Debatte, die viele Forscher lange beschäftigt und absorbiert hat. Die Entdeckung eröffnet neue Perspektiven.»

Gut möglich, dass in den kommenden Jahren weitere Subtypen von Gliazellen identifiziert werden, die ebenfalls direkt in die Gehirnaktivität eingreifen.

Ein möglicher Ansatz für neue Therapien gegen Alzheimer

Andrea Volterras Team hat in zwei Hirnregionen von Menschen und Mäusen nach Glutamat-freisetzenden Gliazellen gesucht und gefunden: im Hippocampus und einem Gehirnareal im Zentrum des Gehirns, wo Bewegungen koordiniert werden.

Wenn die Forschenden die spezialisierten Zellen daran hinderten, Glutamat auszuschütten, verschlechterte sich die Gedächtnisleistung, wurden Bewegungen unkontrollierter und verschlimmerten sich epileptische Anfälle.

Gelingt es dereinst, den neu identifizierten Zelltyp gezielt zu steuern, bieten sich neue Ansätze in der Behandlung von Epilepsien und neurodegenerativen Krankheiten wie Alzheimer und Parkinson.

Nach der Entdeckung ist vor der Entdeckung. Andrea Volterra will jedenfalls mehr. Als nächstes untersucht er mit seinem Team, ob der neue Zelltyp gegen Gedächtnisprobleme bei Alzheimer schützen kann – und ob es andere Regionen gibt, in denen die hybriden Zellen, den Chor der Neuronen dirigieren.

Wissenschaftsmagazin, 9.9.2023, 12:40 Uhr

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