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Neurodiversität im Job ADHS und Autismus: Wenn Angestellte etwas anders ticken

Eine Zürcher Marketing-Firma bezeichnet sich als erste neurodiverse Agentur. Ihre Überzeugung: Je unterschiedlicher die Mitarbeitenden ticken, desto besser werden die Ideen – und desto erfolgreicher die Projekte.

«ADHS ist meine Superpower, weil in meinem Kopf ein stetiges Ideen-Feuerwerk herrscht.» Für Marius Deflorin ist klar: Dass sein Hirn anders funktioniert als das der Mehrheit, ist kein Nachteil – sondern eine besondere Gabe. Deflorin ist Co-Geschäftsführer der Zürcher Branding-Agentur Twofold, die Werbekampagnen und Markenauftritte umsetzt.

Stolz nennt sich das junge Unternehmen «die erste neurodiverse Agentur». An der Seite von Marius Deflorin leitet Noé Robert die Firma, auch er hat eine ADHS-Diagnose. «Es ist ein Teil von mir, der mich vorwärtstreibt und mich Ideen umsetzen lässt.» Mit ihrer Firma lassen die beiden die Idee der Neurodiversitätsbewegung Realität werden.

Twofold beschäftigt rund 50 Mitarbeitende – Menschen mit ADHS, Personen auf dem Autismus-Spektrum, aber auch solche ohne neurodivergente Diagnosen. «Es sind die unterschiedlichen Perspektiven, die es ausmachen», sieht Noé Robert als entscheidenden Vorteil seines neurodiversen Teams. Von den verschiedenen Arten des Denkens verspricht sich die Agentur unkonventionelle Ideen und mehr Kreativität.

Die Zusammenarbeit unterschiedlich funktionierender Menschen kann weitere Vorteile haben. Zum Beispiel, dass man als Organisation gezwungen wird, gewisse Abläufe zu überdenken. Ein Beispiel: An Meetings werden bei Twofoldlange Smalltalks vermieden. Eine Massnahme, die vor allem Menschen mit Autismus ein Anliegen ist. Für sie können soziale Interaktionen eine Herausforderung sein.

«An Meetings sprechen wir nur über ganz konkrete Dinge und nicht übers Wetter. Am Schluss weiss jede Person, was sie zu tun hat. Das habe ich eingefordert, und das war nie ein Problem», erzählt Michael Maurantonio, ein Twofold-Mitarbeiter mit Autismus. Die effizienteren und strukturierteren Sitzungen werden inzwischen von allen Mitarbeitenden geschätzt.

Auch Vera Herzmann, systemische Organisationsberaterin mit Spezialgebiet Neuromanagement, sieht grosses Potenzial in solchen Teams: «Neurodivergente Personen haben meist viel an sich selbst ‹gearbeitet›, sie kennen ihre Stärken und Schwächen. Wenn sie diese preisgeben, können hoch performante Teams zusammengestellt werden.» So könnten laut Herzmann Personen beispielsweise gezielt für exakte Arbeiten, andere für ihre Ideenvielfalt und wieder andere für ihr vorausschauendes Denken eingesetzt werden.

Die Grenzen der Neurodiversitäts-Idee

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Ein Porträt von Helene Haker, Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie.
Legende: zvg

Helene Haker ist Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie. Ihre Praxis in Zürich ist auf Autismus und Neurodiversität spezialisiert.

SRF : Welche Chancen sehen Sie im Konzept der Neurodiversität, über das derzeit viel diskutiert wird?

Helene Haker: Dass das Thema Neurodiversität in aller Munde ist, kann dazu beitragen, das gesellschaftliche Bewusstsein dafür zu erweitern, dass es nicht einfach eine Normalform gibt und daneben verschiedene, abgetrennte Störungsformen, sondern vielmehr eine ganze Landschaft an möglichen Formen des Seins, die zum Menschsein dazugehört. Ich glaube, diese Erkenntnis ist das Potenzial des Konzepts. 

Einige treiben die Idee der Neurodiversität so weit, dass sie statt von Krankheiten sogar von Superkräften sprechen. Kann das auch zu einer Bagatellisierung schwerer Krankheitsbilder führen – zum Beispiel für schwere Formen von Autismus?

Ja, ich sehe das als sehr problematisch an. Man versucht damit, den Störungsbegriff zur Seite zu wischen. Tatsächlich erleben wirklich diagnostizierte Autismus-Betroffenen immer wieder gravierende Störungen. Sie sind nicht «gestört» in ihrem Inneren, aber in der Interaktion mit der Welt und deren Anforderungen. Ich empfinde es als Hohn, ihnen dies abzusprechen, da sie dadurch in ihrer Lebensbewältigung leiden und immer wieder Unterstützung brauchen.  

Autismus als Superkraft in der Arbeitswelt – also eine Illusion?

Viele Autismus-Betroffene sind in engen Bereichen hochleistungsfähig. Wenn jemand das Glück hat, in so einem Bereich seine Stärken einbringen zu können, dann ist das eine «Superkraft» – und ein Segen für die betroffene Person und alle rundherum. Doch die Realität ist oft eine andere: Die allermeisten Autismus-Betroffenen haben nicht die Möglichkeit, ihre Stärken superproduktiv einzusetzen, weil sie andere Fähigkeiten nicht entwickelt haben, die sie bräuchten, um sich reibungslos einfügen zu können. 

Das klingt nicht sehr hoffnungsvoll …

Es hängt stark von der Arbeitsumgebung ab, wie viel Spielraum besteht, um auf besondere Bedürfnisse einzugehen. Je nach Arbeitsumfeldsind unterschiedlich viele Anpassungen möglich. Man kann das aber nicht von allen Branchen im gleichen Masse fordern. Umso entscheidender ist es für Betroffene, dass sie wissen, was sie brauchen und wo ihre Grenzen sind, um die Wahl ihres Berufes den Möglichkeiten anzupassen. Wichtig ist, dass wir als Gesellschaft lernen, wie wir mit Schwächen und Grenzen jedes einzelnen umgehen. Sodass man keine Hemmungen haben muss, einmal zu sagen: Das ist für mich jetzt schwierig, da brauche ich Hilfe. Ich glaube, dann wäre allen gedient, mit oder ohne neurodiverse Besonderheit.

Doch was braucht es im Berufsalltag konkret, um Neurodiversität zu fördern? Betritt man die Büroräumlichkeiten der Agentur Twofold, lässt kaum etwas darauf schliessen, dass diese Firma anders aufgestellt ist als viele andere: «Strukturell sind wir relativ ähnlich wie andere Büros. Ausser, dass wir keine Grossraumbüros haben, sondern viele Einzelbüros, sodass man sich zurückziehen kann», erklärt Marius Deflorin. Besonders für Menschen auf dem Autismus-Spektrum ist es essenziell, dass Störfaktoren wie Lärm, intensive Lichtquellen oder ständige Bürogespräche vermieden werden können.

Ein Porträt von Organisationsberaterin Vera Herzmann.
Legende: Vera Herzmann Die systemische Organisationsberaterin forscht und publiziert zu den Themen Neurosensitivität und Neuromanagement. zvg/Zühlke

Neurodiversitäts-Expertin Vera Herzmann betont allerdings: «Mit dem Anbieten von Noise-Cancelling-Kopfhörern ist die Arbeit nicht getan.» Entscheidend für Betroffene sei ein Arbeitsumfeld, das anderes Verhalten versteht und respektiert: «Akzeptieren mich meine Arbeitskolleginnen und -kollegen, wenn ich mich zum Beispiel aus sozialen Kontexten bewusst zurückziehe? Wie geht mein Umfeld damit um, wenn ich mich ungefiltert äussere oder impulsiv bin?»

«Hier kann man einfach sich selbst sein.»

Auch Marius Deflorin von Twofold setzt auf Respekt vor individuellen Bedürfnissen: «Es ist wichtig, dass wir nicht einfach alle über einen Kamm scheren.» So dürfen Mitarbeitende laut Deflorin ihre Arbeitszeit einteilen, wie sie wollen. Auch den Arbeitsort, also Büro oder Homeoffice, sei den Mitarbeitenden freigestellt.  

Diese aktive Förderung des Andersseins komme auch sogenannt neurotypischen Mitarbeitenden zugute, die ebenfalls Teil der neurodiversen Belegschaft sind. «Ich finde es am schönsten, dass niemand versucht, ein Image zu bewahren. In anderen Teams wird oft versucht, kompetent oder cool zu wirken. Hier kann man einfach sich selbst sein. Man kann offen sagen, wenn es einem schlecht geht oder wenn es einem zu viel ist», sagt etwa Senior Designer Charlotte Dupont.

Gelebte Vielfalt am Arbeitsplatz ist (noch) selten

Twofold hat seit seiner Gründung bewusst auf neurodivergente Mitarbeitende gesetzt und ist damit noch eine Ausnahme in der Arbeitswelt: «In der Schweiz, Deutschland und Österreich ist man noch komplett am Anfang», stellt Herzmann immer wieder fest. «Unsere Gesellschaft versteht Neurodivergenz mehrheitlich noch als eine Störung, ein Defizit – eine Abweichung von der Norm halt.» 

Das Bewusstsein für die Vorteile wächst nur langsam und dies obschon internationale Schätzungen davon ausgehen, dass 15 bis 20 Prozent der Arbeitnehmenden neurodivergente Ausprägungen haben.  

Eine Umfrage von Puls bei grösseren Schweizer Arbeitgebern zeigt: Erst wenige fördern Neurodiversität aktiv. So bieten etwa einige Unternehmenseinheiten der Migros spezielle Ruhezonen für Autismus-Betroffene an. Roche hat eine «Neurodiversity Community» aufgebaut, welche bei Bedarf praktische Empfehlungen geben kann und für eine «neurofreundliche Umgebung» sorgen soll. 

Andere angefragte Firmen wie etwa die Post, Coop oder Nestlé verweisen auf allgemeine Inklusionsprogramme und Diversitätsgrundsätze. «Organisationen müssen sich wandeln, um neurodivergenten Personen gerecht zu werden», sagt Vera Herzmann. Und dies sei mit Aufwand verbunden, den viele Firmen noch scheuen. Deshalb bleibe es oft nur bei guten Absichten.

Diese Erfahrung machen auch die Twofold-Geschäftsführer Marius Deflorin und Noé Robert, wenn sie Unternehmen in Neurodiversitäts-Fragen beraten: «Wir haben Firmen erlebt, die wirklich eine Veränderung wollen. Es gibt aber auch das Gegenteil: Sie machen mit uns einen Workshop. Und danach kann man einen Haken setzen – man hat diese Agenda bedient und damit hat es sich», sagt Robert.  Oder Klartext gesprochen: Firmen nutzen das Schlagwort Neurodiversität als Image-Projekt, ohne wahrnehmbare Veränderungen umzusetzen. Dennoch ist Robert überzeugt, dass sich das Neurodiversitäts-Konzept eines Tages durchsetzen wird: «Sobald die Unternehmen sehen, was die positiven Aspekte sind und dass es wirklich ein Business-Driver ist.»

Puls, 28.04.2025, 21:05 Uhr

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