Frühmorgens, kurz nach Sonnenaufgang, beginnt der Tag der beiden Ärzte Afreed Ashraf und Willi Balandies anders als gewohnt. Sie betreten ungewohntes Terrain: kein geregelter Klinikdienst, keine Sprechstunden, kein vertrautes Umfeld. Stattdessen: Blaulicht, Einsatzradio, Adrenalin.
Ein Tag im Ausnahmezustand beginnt
Willi wird einen Tag lang mit Rettungssanitäterin Madlen Münger und Rettungssanitäter Manfred Geissbühler auf der Ambulanz im Einsatz stehen. Den Dermatologen macht das ziemlich nervös: «Ich habe mal auf dem Notfall im Spital Riggisberg gearbeitet, aber das liegt schon lange zurück – und auch dort habe ich nie eine Reanimation durchführen müssen.»
Afreed wird mit Notarzt Tobias Fehr im Notarztmobil unterwegs sein. Er arbeitet derzeit selbst in einer Notaufnahme. Während das Notarztfahrzeug zum ersten Einsatz rollt, fragt er sich trotzdem: «Wie wird die Notfallmedizin vor Ort gehandhabt? Was ist anders als im Spital?»
-
Bild 1 von 2. Willi Balandies (l.) mit Madlen Münger und Manfred Geissbühler in der Ambulanz unterwegs. Bildquelle: srf.
-
Bild 2 von 2. Afreed Ashraf (r.) und Tobias Fehr beim morgendlichen Check des Notarztmobils. Bildquelle: srf.
Willi hat bei seinem Ambulanzeinsatz von Anfang an viel zu tun. Dennoch sind es keine Fälle, die ihn überfordern. Für ihn fühlt es sich mehr an wie ein sanfter Einstieg ins präklinische Notfall-ABC. Mit Einsätzen, die zwar keine unmittelbare Lebensgefahr bedeuten, aber dennoch Konzentration und Erfahrung fordern.
Vom Schwindel zur Katastrophe
Sein erster Einsatz: Ein Patient, der über starken Schwindel klagt. Vor Ort analysieren Willi, Manfred und Madlen, dass es sich wohl um einen Lagerungsschwindel mit Ursache im Gleichgewichtsorgan des Ohrs handelt. Um alle Eventualitäten auszuschliessen, fahren sie den Patienten mit der Ambulanz für weitere Abklärungen ins Spital.
Doch das Alarmierungstelefon von Willi bleibt nicht lange stumm. Kurz darauf folgt ein Einsatz wegen einer Ohnmacht am Arbeitsplatz: Eine Person ist auf der Toilette gestürzt.
Vor Ort stellt sich schnell heraus, dass der Vorfall nicht so schlimm ist, wie zuerst angenommen. Die Person ist wieder bei Bewusstsein, klagt über keine Schmerzen und möchte auch nicht ins Spital. «Nein» zu einem Transport zu sagen, ist ihr gutes Recht. So fahren Willi, Madlen und Manfred wieder zum Stützpunkt zurück.
Obwohl Willi erst ein paar Stunden im Einsatz ist, spürt er immer mehr die Faszination, die von diesem Beruf ausgeht. «Wir wissen nie, was auf uns zukommt. Und ich feiere es schon irgendwie. Sogar ich als Dermatologe spüre ein wenig Neugierde für diesen Beruf.»
Willi ist nach den ersten Fällen «on fire» und unterstützt Madlen und Manfred bei ihrer Arbeit, wo er nur kann. Er trägt das EKG, hilft beim Transport der Patienten, stösst die Trage beim Patiententransport. Noch ahnt Willi nicht, dass dies nur das Vorspiel ist für ein Ereignis später an diesem Tag, das sich in seinen Kopf einbrennen wird.
Bei Afreed und Notarzt Tobias Fehr bleibt es hingegen zunächst noch ruhig. So kann Tobias auf der Zentrale Afreed Schritt für Schritt in die Welt eines Notarztes einführen.
Gemeinsam kontrollieren sie das Inventar des Notarztfahrzeuges, besichtigen die Schlafräume, trinken zwischendurch einen Kaffee und gleiten nacheinander die Rutschstange herunter. Dass sie bis jetzt noch keinen Einsatz hatten, nimmt Afreed gelassen: «Ich bin mir vom Notfall im Spital gewohnt, dass es mit der Ruhe innerhalb von zehn Sekunden vorbei sein kann.»
Kurz nach Mittag folgt dann doch Afreeds erster Notarzteinsatz: Lungenembolie in einem Alten- und Pflegeheim – ein medizinischer Notfall, bei dem jede Minute zählt.
Als Tobias und Afreed beim Heim eintreffen, klagt der Patient über akute Atemnot. Eine komplizierte Situation für die Rettungskräfte, denn der Betroffene hat eine chronische Erkrankung und Demenz. «Wir wissen nicht, wie wir hier weiter verfahren sollen und was der Wunsch des Patienten ist», sagt Afreed in einer ruhigen Minute. Schliesslich entscheiden sie sich, zusammen mit dem Pflegepersonal und dem Patienten, für eine Einlieferung ins Spital.
Der Moment, in dem alles kippt: Verkehrsunfall im Tunnel
Nun geht es Schlag auf Schlag: Noch während der Lungenembolie-Patient in die Ambulanz eingeladen wird, trifft bereits der nächste Notruf ein. Ein Alarm, der Afreeds Tag auf den Kopf stellen wird: schwerer Verkehrsunfall in einem Tunnel, Frontalkollision mit mehreren Verletzten. Eine Person in Lebensgefahr. Reanimation am Strassenrand.
Mit Blaulicht und Sirene machen sich Afreed und Tobias unverzüglich auf den Weg. Vor Ort sind sie die ersten medizinischen Rettungskräfte. Im Tunnel treffen sie auf Chaos, zersplitterte Windschutzscheiben, deformiertes Blech, Menschen, die regungslos auf dem Boden liegen.
Afreed ist zwar Notfallarzt in einem Spital, doch die dramatische Szenerie mitten in einem Tunnel ist auch für ihn erschütternd. Mit dem erfahrenen Notarzt Tobias übernimmt er die Reanimation der am schwersten verletzten Person.
Ernster könnte die Lage kaum sein. Die beiden Ärzte versuchen alles, um die Person wieder ins Leben zurückzuholen. Doch sie bringen das Herz nicht mehr zum Schlagen.
Nach über 30 Minuten steht die traurige Wahrheit fest: Dieses Leben konnte nicht gerettet werden. Die Entscheidung, die Reanimation zu beenden, trifft das Team schwer.
Wenn man dann alles versucht hat, kommt der Moment, wo man sieht: Es hat keinen Sinn mehr. Das geht mir sehr nahe.
Während der Reanimation war Afreed vollkommen auf die Arbeit konzentriert – er hat alles um ihn herum ausgeblendet. Nun treffen ihn die Emotionen mit voller Wucht. Er ringt nach Worten.
«So eine Situation habe ich noch nie erlebt. Wir haben über eine halbe Stunde oder länger reanimiert. Wenn man dann alles versucht hat, kommt der Moment, wo man sieht: Es hat keinen Sinn mehr. Das geht mir sehr nahe.»
Zusehen, helfen – und doch betroffen sein
Auch Willi trifft mit seinem Ambulanzteam beim Unfall im Tunnel ein. Er hilft einer weiteren verletzten Person und fährt sie nach ihrer Stabilisierung ins Spital.
Obwohl er bei der Reanimation nicht involviert war, nimmt auch ihn der Einsatz im Tunnel mit. «Es geht mir schon nahe, wenn man das so sieht. Dann merkt man plötzlich, wie kostbar das Leben ist – und wie schnell ein Unfall alles auf den Kopf stellen kann.»
Nach dem Tunnel-Einsatz soll ein Debriefing im Team helfen, das Erlebte einzuordnen und die aufwühlenden Bilder zu verarbeiten. Man spricht über Gefühle, das Erlebte, Ängste und wie es jetzt weitergeht.
Mitgefühl trotz professioneller Distanz
Wie gehen Profis mit solchen Erlebnissen und der Dauerbelastung im Job um? Tobias Fehr ist als erfahrener Notarzt mit der Frage vertraut. «Es darf einem nicht zu nahekommen, es darf einen nicht verfolgen. Aber ich finde, es darf einen trotzdem berühren. Das Schicksal schlägt zu – und auf einmal ist das Leben der Leute komplett anders. Das lässt einen nicht kalt.»
Diese feine Balance zwischen Nähe und professioneller Distanz prägt die Arbeit im Rettungsdienst. Man darf und soll fühlen – aber nicht daran zerbrechen.
Auch Afreed nimmt diese Erfahrung mit: «Man merkt, wie viele Leute an solch einem Unfall beteiligt sind. Wir haben unser Bestes gegeben. Aber die Bilder – die bleiben. Das nimmt man mit.»
Der Tag zehrt an Willi und an Afreed. Zwölf Stunden Notfall-Einsatz sind körperlich und emotional eine Grenzerfahrung. Kaum ist ein Rettungseinsatz vorbei, folgt schon der nächste. Kurze Verschnaufpausen gibt es höchstens beim Reinigen und Vorbereiten der Ausrüstung für den nächsten Einsatz.
Es ist nur ein kurzes Durchatmen, denn noch während des Debriefings werden Willi und sein Ambulanzteam erneut aufgeboten. Eine weitere Person benötigt medizinische Hilfe.
Diese Dauerbelastung auszuhalten ist nicht leicht: «Ich bin erschöpft von den vielen Eindrücken. Ich kann es nicht in Worte fassen. Ich glaube, ich bin vor allem überwältigt», sagt Willi, während er in der Ambulanz zum nächsten Einsatz fährt.
Respekt vor allen Leuten, die das machen! Dafür muss man wohl geboren sein.
Afreed und Willi beenden den Tag erschöpft, aber auch verändert. Beide haben erlebt, was es bedeutet, Verantwortung in Extremsituationen zu übernehmen. «Hey, Respekt vor allen Leuten, die das machen! Dafür muss man wohl geboren sein», sagt Willi mit einem müden Lächeln auf den Lippen.
Was bleibt, ist nicht nur tiefer Respekt für die Arbeit der Rettungskräfte – sondern auch eine neue Perspektive auf den eigenen Beruf und sogar das Leben selbst.