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Pflegende Angehörige Wo finden Betreuende Entlastung?

  • Rund 600'000 Menschen in der Schweiz pflegen und betreuen ihre Angehörigen – teils rund um die Uhr.
  • Dabei wird Gratisarbeit im Wert von mindestens 3.7 Milliarden Franken geleistet. Die physische und psychische Belastung ist enorm.
  • Entlastungsangebote existieren, sind aber überwiegend privater Natur. Das vom Bund vor bald drei Jahren lancierte Förderprogramm «Entlastung für betreuende Angehörige» zeigt noch kaum Wirkung.

Ernst Hofers Einsatz beginnt bereits früh am Morgen: Medikamente richten, Kleider bereitlegen – seit fünf Jahren bestimmt die Parkinsonerkrankung seiner Frau Ursula den gemeinsamen Alltag.

An vier Tagen schaut morgens die Spitex vorbei. Die ist jedoch ausschliesslich für die Pflege zuständig. Betreuungsaufgaben übernimmt sie nicht. Dennoch, eine gewaltige Entlastung: «Die Spitex nimmt Ursula aus dem Bett, duscht sie, zieht sie an», erklärt Ernst Hofer. «Erst habe ich gemeint, es gehe auch ohne. Aber nun möchte ich darauf nicht mehr verzichten.»

Der Einsatz der Spitex eröffnet Ernst Hofer kleine Zeitfenster, die er für Spaziergänge mit der Hündin Lanya nutzt. Um den Kopf zu lüften, Energie zu tanken.

Am grundsätzlichen Problem ändert dies dennoch nur wenig: «Bestenfalls kann ich vielleicht einmal zweieinhalb Stunden weg.» Zum Beispiel in den Männerchor. «Aber nach der Probe gehe ich meistens gleich nach Hause.»

Früher war Ursula Zannol-Hofer Sekundarlehrerin. Eine selbstständige, kreative Frau. Heute ist eine Kommunikation mit ihr fast nicht mehr möglich. Der Parkinson behindert sie beim Reden und lässt sie an alltäglichen Dingen scheitern. Sie braucht nonstop Hilfe.

Eine Herausforderung, die für Ernst Hofer alleine irgendwann zu viel wurde. An zwei Tagen hat er eine Angestellte für einige Stunden, und an weiteren zwei Tagen bringt er seine Frau in die Einrichtung «Tapetenwechsel».

Beispiel Nachbarschaftshilfe mit Zeitguthaben

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Unter den Modellen guter Praxis führt das BAG unter anderem auch das Projekt des Obwaldner Vereins KISS auf.

Dieser organisiert im Kanton Obwalden bereits seit sechs Jahren «Nachbarschaftshilfen mit Zeitgutschrift». Wer seine Zeit unentgeltlich einer hilfsbedürftigen Person zur Verfügung stellt, spart sich damit ein Zeitguthaben an, das eingelöst werden kann, wenn man selber einmal Betreuung nötig hat.

So kamen hier alleine im letzten Jahr über 2300 Stunden Freiwilligenarbeit zusammen.

Mittlerweile gibt es die Nachbarschaftshilfe mit Zeitguthaben bereits in mehreren Kantonen.

Die Unterstützung musste er sich selber organisieren. Ein schwieriges Unterfangen: «Vor allem müsste es eine viel bessere, zentrale Koordination geben», meint Hofer. «Man wird in dem Dschungel, in dem man steckt, völlig alleine gelassen.» Es habe ja genügend Hilfsangebote.

«Aber das stimmt nicht! Die zeigen einem bloss, wo man Hilfe holen kann.» Wenn man dann Hilfe in Anspruch nehmen muss, werde das plötzlich sehr, sehr teuer. «Dann ist man gleich doppelt gestraft – finanziell auch noch.»

Die Kostenfrage beschäftigt auch Sozialwissenschaftler Carlo Knöpfel an der Hochschule Soziale Arbeit FHNW. Laut Hochrechnungen des Bundesamts für Statistik leisten Angehörige jährlich Gratisarbeit im Wert von mindestens 3,7 Milliarden Franken.

Und es wird in Zukunft nicht weniger werden.

Bessere Unterstützung wäre billiger

«Heute ist von einer ‹doppelten Alterung› in der Schweiz die Rede. Das heisst, immer mehr Leute werden immer älter und älter», erklärt Knöpfel. «Die Betreuung von Angehörigen ist also keine Sache von einigen Wochen oder Monaten, sondern eher von vielen Jahren.»

Je besser die Betreuenden entlastet werden, desto besser die Aussicht, dass sie dieser Aufgabe gewachsen bleiben, «idealerweise bis zum Tod der betreuten Person.»

Lässt man die Betreuer im Stich, kommt unter Umständen eine weit teurere Variante zum Zug: der frühzeitige Übertritt ins Pflegeheim.

«Man schätzt, dass 20 bis 30 Prozent der Bewohnerinnen und Bewohner von Pflegeheimen nicht dort sind, weil sie eine Pflegeproblematik haben, sondern weil sie eine soziale Problematik haben», weiss Carlo Knöpfel.

Sprich: Mit gut organisierter Betreuung und Entlastung liesse sich nicht nur viel menschliches Leid verhindern, sondern auch viel Geld sparen.

Aktuell hängt der Grad der Entlastung massgeblich davon ab, wo in der Schweiz man zu Hause ist. Wer Pech hat, muss sich um alles selber kümmern. Wer Glück hat, lebt in einer Gemeinde wie Bassersdorf, wo es für betreuende Angehörige zum Beispiel eine einzige Anlaufstelle gibt, die alles koordiniert.

«Die Zusammenarbeit zwischen den Institutionen ist auf einem ganz anderen Level. Die Schnittstellen sind viel besser geklärt», weist Esther Diethelm, die Altersbeauftragte der Gemeinde, auf ein wichtiges Ergebnis ihrer mehrjährigen Arbeit hin.

Für die Praxiserfahrungen der Gemeinde Bassersdorf interessiert sich auch der Bund. Vor gut drei Jahren hat das Bundesamt für Gesundheit BAG das Förderprogramm «Entlastungsangebot für betreuende Angehörige» lanciert.

Bis anhin beschränkt sich das «Förderprogramm» auf die Vorstellung von privaten oder regionalen Projekten mit Vorbildcharakter und das Erheben von Daten. Die Analyse fördert wichtige Erkenntnisse zutage. Etwa, dass viele Betreuende kein geeignetes Hilfsangebot finden, weil ihnen selber nicht klar ist, welche Unterstützung sie benötigen.

Viele Probleme sind also erkannt. Doch schweizweite Lösungen scheinen noch in weiter Ferne: «Jetzt liegen einmal die Forschungsergebnisse vor», meint Facia Marta Gamez vom BAG. «Man hat verschiedene Aspekte beleuchtet, von Koordinationsfragen über finanzielle Tragbarkeit. Nun wird das BAG daraus einen Synthesebericht erarbeiten, wo nächstes Jahr konrekte Empfehlungen ausgearbeitet werden.»

«Eigentlich nicht Sache des Bundes»

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Im Nachgang zum «Puls»-Schwerpunkt vom 28. Oktober halten BAG und Bundesamt für Statistik fest, dass die Förderung der Entlastungsangebote eigentlich Sache der Kantone und Gemeinden sei, die auch die finanziellen Mittel dafür verwalten.

Da sich in dieser Sache seit Jahren nichts getan hat, habe der Bund Geld gesprochen, damit die Problematik schweizweit thematisiert und diskutiert werde. Aufgrund der föderalen Struktur der Schweiz könne man aber nicht an der Front aktiv werden.

Bis es soweit ist, kann man wenigstens auf der Internetseite des BAG nachschauen, ob es in der eigenen Region bereits ein Modell guter Praxis gibt.

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