Rohkost, Meditation & Co. - Krebs alternativ behandeln – Glücksspiel oder gangbarer Weg?
Schulmedizinische Therapien werden immer besser, trotzdem lehnen Betroffene sie oft ab und entscheiden sich stattdessen für alternative Behandlungsansätze. Was sind die Gründe und welche Risiken gehen sie dabei ein?
Autor: Sabine Pirolt (Übersetzung und Bearbeitung: Sarah Allemann)
Die Zahlen des Bundesamtes für Statistik (BFS) sind unbarmherzig: In der Schweiz werden jedes Jahr fast 50'000 neue Krebsfälle diagnostiziert. Krebs ist eine der am meisten gefürchteten Krankheiten und die zweithäufigste Todesursache in der Schweiz. Zudem sind die Behandlungen sehr aufwändig und haben oft schmerzhafte Nebenwirkungen.
Es gibt aber auch Grund zur Hoffnung. Die Wissenschaft macht grosse Fortschritte, und die Überlebenschancen haben sich deutlich verbessert: Heute sind 70 Prozent der Betroffenen fünf Jahre nach der Diagnose noch am Leben, während es Ende der 1950er Jahre mit 35 Prozent nur halb so viele waren.
Der Schulmedizin den Rücken kehren
Trotz der Fortschritte in der Forschung entscheiden sich einige Krebskranke für eine andere Art der Behandlung, kehren der konventionellen Medizin den Rücken und setzen auf alternative Therapien wie zum Beispiel Rohkost, Meditation oder Visualisierung.
Aijas Geschichte
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Aija ist seit 30 Jahren Yogalehrerin und Mutter von drei Kindern. 2010 erfährt sie, dass sie Brustkrebs hat. Nach reiflicher Überlegung sagte sie ihre Termine für eine Biopsie der anderen Brust und eine für die nächsten Tage geplante Operation ab. Sie setzt fortan bei der Ernährung auf Rohkost und verzichtet 18 Monate lang komplett auf Zucker. Zusätzlich übt sie sich in Visualisierung und macht Meditation. Heute ist sie immer noch am Leben und bezeichnet sich selbst als geheilt, ohne weitere Untersuchungen veranlasst zu haben.
Onkologe Marc Schlaeppi hat sich am Kantonsspital St. Gallen jahrelang unermüdlich für die Gründung des Zentrums für Alternativmedizin eingesetzt. Das Ziel: die Zusammenarbeit von Komplementär- und Schulmedizin zum Wohle des Patienten. Zu Hause in beiden Disziplinen verbindet er wissenschaftliche Erkenntnisse mit der Offenheit für komplementäre Therapien.
Der totale Verzicht auf die Schulmedizin ist für Marc Schlaeppi ein unkalkulierbares Risiko: «Ich hatte eine Patientin, die sich lange Zeit ausschliesslich an alternative Therapien gewandt hatte. Es schien ihr gutzugehen, bis sie eines Tages mit Metastasen in der Wirbelsäule ins Krankenhaus eingeliefert wurde. Die Krankheit war still und leise vorangeschritten, ohne dass sie es bemerkt hatte.»
Was hat diese Patientinnen und Patienten dazu bewogen, eine solche Entscheidung zu treffen? Und vor allem: Welche Ergebnisse haben sie erzielt?
Wenig Studienmaterial zu alternativen Methoden
Es existieren nur wenige Studien über Menschen, die andere Methoden zur Bekämpfung von Krebs gewählt haben. Das Interesse für alternative Therapien, die wissenschaftlich nicht fundiert sind, ist bei Wissenschaftlern generell eher gering.
Barbaras Geschichte
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Legende:
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Die Abkehr von der Schulmedizin war für die zweifache Mutter Barbara im Zusammenhang mit ihrem Brustkrebs tödlich. In ihrem Fall handelte es sich um einen besonders aggressiven Typ.
Nach einer Operation verzichtete sie auf Chemo- und Strahlentherapie und wandte sich zwei Jahre lang alternativen Therapien zu. Eine Ärztin ermutigte sie schliesslich, doch noch einen spezialisierten Genfer Onkologen aufzusuchen. Mit mehr Feingefühl bei der Aufklärung konnte er sie von der Wichtigkeit der Schulmedizin überzeugen. Er respektierte ihre Überzeugungen bezüglich alternativer Heilmethoden, bot ihr jedoch an, diese mit den schulmedizinischen Behandlungen zu kombinieren – allerdings zu spät. Barbara starb Anfang 2024.
Bei Skyler B. Johnson, Strahlenonkologe und Assistenzprofessor in der Abteilung für Radioonkologie an der Universität von Utah, sind es persönliche Gründe, die ihn mit dem Thema verbinden. Im zweiten Jahr seines Medizinstudiums erkrankte seine Frau an einem Hodgkin-Lymphom. «Ich habe das getan, was viele tun: im Internet recherchiert», erinnert er sich an die Zeit. Dabei stiess er auf eine Flut von falschen Versprechungen und Fehlinformationen.
Nicolettas Geschichte
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Legende:
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Nicoletta vertraute immer auf die Schulmedizin. Als ihr Leberkrebs zurückkam und ihr Arzt ihr in dieser palliativen Situation keine Hoffnung mehr machte, liess sich die Lehrerin Mistelinjektionen geben, um die letzten sechs Monate, so schmerzfrei und nebenwirkungsarm wie möglich zu überstehen. Zu ihrer Überraschung und der ihrer Ärzte schrumpften die Tumorzellen und der Krebs verschwand schliesslich ganz.
Diese Heilung überrascht Onkologe Marc Schlaeppi nicht: «Spontanheilungen gibt es, aber sie sind sehr selten. Leider kann man sie nicht bewusst reproduzieren, und das ist das Problem. Manchmal unternehmen Patienten etwas, oder im Gegenteil, sie tun nichts Besonderes und trotzdem tritt eine Remission ein, ohne dass man die Ursache dafür erklären kann.»
Der Onkologe gibt zu bedenken, dass es Tausende von Patienten gibt, die Mistelinjektionen erhalten, ohne dabei eine Remission zu erleben.
«Glücklicherweise erhielt meine Frau eine ausgezeichnete konventionelle Behandlung und erholte sich. Aber ich fragte mich: Wenn ich als angehender Arzt nicht weiss, wie ich solche ‹Wunder› deuten soll, wie geht es dann anderen damit?» Diese Erfahrung motivierte ihn zu seiner Forschung.
Die Risiken alternativer Behandlungsmethoden in Zahlen
Skyler B. Johnson und sein Team untersuchten 815 amerikanische Patienten mit Prostata-, Brust-, Lungen- oder Darmkrebs, die alle in einem frühen Stadium diagnostiziert wurden. 258 dieser Patienten entschieden sich ausschliesslich für alternative Therapien.
Jean-François' Geschichte
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Legende:
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Die beiden Ansätze zu vereinen, ist das, was Jean-François getan hat. Im Alter von 52 Jahren wird bei ihm ein neuroendokriner Tumor im Darm mit Metastasen in der Leber diagnostiziert – unheilbar. Der Waadtländer hat auf seinem Weg begleitend zur Schulmedizin nichts unversucht gelassen: Mistelinjektionen, Akupunktur, Meditation, Heilpraktiker, Radiästhesie, Zellresonanztherapie, Leberkur, Chromopunktur, Ayurveda-Therapie, Bioresonanz – die Liste ist beeindruckend.
Das Resultat gibt ihm Recht: Einundzwanzig Jahre nach der Diagnose ist Jean-François immer noch am Leben und hat sich gerade mit einer neuen alternativen Therapie beschäftigt. «Jedes Mal, wenn ich eine neue Spur verfolge, macht mir dies Mut, macht mir Lust, und so gehe ich meinen Weg weiter.»
Die Möglichkeit, etwas gegen die eigene Krankheit tun zu können und die Hoffnung nicht aufzugeben, wirkt sich mit Sicherheit positiv auf die Psyche und damit im besten Fall auch auf den Körper aus.
Das Ergebnis: Ihr Sterberisiko war durchschnittlich 2,5-mal höher, mit deutlichen Unterschieden zwischen den einzelnen Krebsarten. Bei Brustkrebs war das Risiko sogar bis zu 5,6-mal höher.
Die Studienautoren warnen, dass diese Patienten, die oft jung und wohlhabend sind, ihr Leben gefährden, indem sie die Schulmedizin durch nicht geprüfte Methoden ersetzen.