Fachleute prophezeien ein düsteres Szenario. Bis 2050 soll die Hälfte der Weltbevölkerung kurzsichtig sein. Zehn Prozent sogar stark kurzsichtig – also über minus sechs Dioptrien. Dabei könnte man denken: Brille auf und alles ist wieder scharf.
Was oft vergessen geht: Eine starke Kurzsichtigkeit im Jugendalter kann schwere Folgen im Erwachsenenalter haben, im schlimmsten Fall sogar zur Erblindung führen.
«Die Last für uns wird immer mehr – wir müssen immer mehr operieren», sagt Augenarzt und Netzhautspezialist Scott Tschuppert vom Kantonsspital St. Gallen. Studien und die klinischen Erfahrungen zeigen: Je stärker die Kurzsichtigkeit, desto höher sind die Risiken für Netzhautablösungen, grünen oder grauer Star sowie Sehschäden an der Makula.
Neue therapeutische Linsen und Brillen
Seit Sommer 2024 gibt es in der Schweiz neue Möglichkeiten zur Behandlung: sogenannte Defokus-Brillen und Kontaktlinsen. Sie sehen zwar aus wie normale Sehhilfen, haben aber spezielle Bereiche, die das einfallende Licht so korrigieren, dass das Auge weniger Anreiz hat, in die Länge zu wachsen. Kurzsichtigkeit entsteht nämlich durch ein zu starkes Längenwachstum des Augapfels.
«Es ist eine Pionierleistung der Schweiz, dass das jetzt von der Krankenkasse übernommen wird», sagt Optometrist Michael Bärtschi, «die Hemmschwelle sinkt, und Kinder können viel früher davon profitieren».
Investition in die Zukunft
Fachleute schätzen, dass rund 20’000 bis 40’000 Kinder und Jugendliche in der Schweiz die Kriterien für diese neuen optischen Therapien erfüllen. Die zusätzlichen Kosten von 13 bis 27 Millionen Franken jährlich könnten sich langfristig auszahlen. «Wenn diese Kinder später nicht sehbehindert oder blind werden, spart das enorme Folgekosten», so Bärtschi.
Doch die Brillen und Linsen allein reichen nicht. «Wenn man keine Verhaltens-Massnahmen ergreift und glaubt, dass die speziellen Brillen alle Probleme aus der Welt schaffen werden, dann ist das falsch», mahnt Ken Nischal, Augenarzt in Pittsburgh, USA und Mitgründer des Weltverbandes für Kinderaugen-Heilkunde. «Die Verhaltensmassnahmen sollten die Basis sein.» Alles, was man darüber hinaus mache, sei grossartig.
Die Forschung bestätigt nämlich schon lange: Eine der wichtigsten Massnahmen gegen Kurzsichtigkeit im Kindesalter ist einfach und erst noch kostenlos: Tageslicht! Täglich zwei Stunden draussen sein, senkt das Risiko für Myopie. Auch Pausen und eine gute Beleuchtung bei Bildschirm- und Lesezeit sind entscheidend.
Diese einfachen Verhaltensänderungen wirken vor allem präventiv. Das neue Defokus-Prinzip soll das Massnahmenpaket im Myopie-Management ergänzen und vor allem dann helfen, wenn die Kurzsichtigkeit entsteht und sich das Längenwachstum der Augäpfel bereits beschleunigt hat. Heute gilt nämlich das Motto: Jede Dioptrie zählt!