Im Umgang mit seinen Ängsten hat sich der Mensch seit jeher nicht nur aufs Prinzip Hoffnung und eine robuste Psyche verlassen. Baldrian zur Beruhigung, Alkohol zum Betäuben, Opium zum Vergessen – das Spektrum an mehr oder minder harmlosen Substanzen zur Bewältigung von akuten Krisen und chronischen Leiden ist breit. Vergleichsweise neu ist der Einsatz von chemischen Substanzen:
- Anfang des 20. Jahrhunderts kam mit den Barbituraten die erste Gruppe von Arzneimitteln auf den Markt, mit denen sich Ängste im grossen Stil wirksam betäuben liessen. Ihre beruhigenden, schlaffördernden und krampflösenden Eigenschaften machten sie als Schlaf- und Beruhigungsmittel populär. Die Kehrseite der Medaille: Medikamente wie Barbital machten schnell abhängig und waren schwierig zu dosieren – wer etwas zu viel einnahm, schwebte bereits in Lebensgefahr. Auch kam es unter Barbiturat-Einfluss häufig zu Suiziden. Dennoch konnten sich die Medikamente halten und waren besonders in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg gefragt.
- Mitte des 20. Jahrhunderts bahnte sich die grosse Wachablösung an: Der Chemiker Leo Sternbach erhielt in den 1950er Jahren von seinem Arbeitgeber Hoffmann-La Roche den Auftrag, ein neues Beruhigungsmittel zu kreieren. Seine Molekular-Experimente mündeten im ersten Benzodiazepin, das 1960 mit dem klangvollen Namen Librium («befreiend») lanciert wurde.
Librium (Wirkstoff: Chlordiazepoxid ) war auf Anhieb ein Erfolg, wurde aber vom 1963 lancierten Nachfolgeprodukt Valium klar in den Schatten gestellt: Die Pille mit dem Wirkstoff Diazepam war der erste Blockbuster der Pharma-Geschichte, spülte als solcher Milliardenerträge in die Roche-Kassen und war eine Zeitlang das weltweit am häufigsten verschriebene Medikament überhaupt.
Valium wirkt beruhigend und angstlösend, krampflösend, muskelentspannend und schlaffördernd und fand so in den Sechzigern schnell breite gesellschaftliche Akzeptanz – nicht nur in experimentierfreudigen Kreisen, sondern auch in Durchschnittshaushalten, wo die beruhigende Pille zur besseren Bewältigung des Alltags beitrug.
Der anfänglichen Euphorie und dem regelrechten Boom in den Siebzigern folgte allerdings bald eine gewisse Ernüchterung, denn auch Valium war nicht frei von Nebenwirkungen: Regelmässige Einnahme führte zu Gewöhnung und Abhängigkeit, Veränderungen der Persönlichkeit waren nicht auszuschliessen. Zudem löste die Pille nicht die eigentlichen Probleme, sondern sorgte lediglich für kurze Phasen der Entspannung. Die oben abrufbaren Sendungen des Schweizer Fernsehens zeigen, wie ambivalent das Verhältnis zu Tranquilizern damals bereits war.
So sehr der Ruf von Valium im Speziellen und Benzodiazepinen im Allgemeinen auch gelitten hat: Aus dem medizinischen Alltag sind sie auch 50 Jahre später nicht verschwunden. Einige prominente Beispiele:
- Diazepam ist in der Akutpsychiatrie das Mittel der Wahl zur schnellen Beruhigung von Patienten. Es wird immer noch in der WHO-Liste der «essenziellen Medikamente» geführt.
- Midazolam – besser bekannt unter dem Markennamen Dormicum – wird gegen Schlafstörungen verschrieben und hat in vielen Schweizer Nachttischen seinen festen Platz.
- Flunitrazepam (Rohypnol) dient in der Medizin als starkes Schlaf- und Betäubungsmittel, ist aber auch als «Vergewaltigerdroge» in Verruf geraten.
- Lorazepam (Temesta) kommt bei schweren Angst- und Panikstörungen oder bei epileptischen Anfällen zum Einsatz
Benzodiazepine sollen nur kurze Zeit eingesetzt werden. Wird die verschreibungskonforme Einnahme nicht vom Arzt kontrolliert und das Medikament nicht nach spätestens 90 Tagen mit einer Ausschleich-Phase abgesetzt, besteht ein hohes Abhängigkeitsrisiko. Soweit die Lehrmeinung. In der Realität werden Schlaf-, Beruhigungs- und Schmerzmittel aber häufig über Jahre hinweg verschrieben und eingenommen. In der Schweiz gelten geschätzte ein bis zwei Prozent der Bevölkerung als «Benzo»-abhängig – was man im Alltag den wenigsten Betroffenen anmerkt.
An Benzodiazepin-Nachfolgern mit vergleichbarer Wirkung bei weniger Suchtpotenzial wird seit Jahren geforscht. Bislang mit wenig Erfolg – «Mutters kleiner Helfer» könnte uns durchaus weitere fünf Jahrzehnte erhalten bleiben.