Worum geht es? Die weibliche Genitalbeschneidung ist in bestimmten afrikanischen Gemeinschaften noch immer tief verwurzelt. Die Weltgesundheitsorganisation WHO hat neue Richtlinien herausgegeben, um die Praxis in diesen Ländern einzudämmen. Auch in der Diaspora, in Ländern wie der Schweiz, leben betroffene Frauen. Gemäss Schätzungen sind rund 24’000 Mädchen und Frauen mit Migrationshintergrund entweder schon beschnitten oder gefährdet, beschnitten zu werden. Gynäkologin Jasmine Abdulcadir ordnet ein.
Wie kommt man auf die Schätzung von 24’000 Betroffenen hierzulande? Gemäss Jasmine Abdulcadir vom Universitätsspital Genf (HUG) basiert diese Zahl auf einer indirekten Schätzung. Diese stützt sich auf Angaben aus jenen Weltgegenden, in denen die weibliche Genitalbeschneidung praktiziert wird: Ländern in Ostafrika – etwa Somalia, Sudan oder Eritrea – sowie in Westafrika, etwa Guinea, Mali, Senegal und Burkina Faso. Nicht nur die Herkunftsländer, auch Altersgruppen, Religionen und Bedürfnisse seien sehr verschieden.
Wie divers sind die Formen der Beschneidung? Auch hier gebe es grosse Unterschiede, sagt Abdulcadir: «Den einen wurde nur die Spitze der Klitoris, anderen ein Grossteil des genitalen Gewebes entfernt. Manche wurden als Neugeborene beschnitten, andere erst mit zwölf Jahren. Bei den einen machte eine Hebamme oder eine Ärztin den Eingriff, bei der Mehrheit jedoch die traditionelle Beschneiderin», so die Gynäkologin. Diese Vielfalt anzuerkennen, sei wichtig. In der Beratung brauche es auch viel Fingerspitzengefühl. Zum Beispiel, wenn eine Frau eine zugenähte Scheidenöffnung hatte. Und nach der Geburt bittet, ihre Vulva wieder zuzunähen.
Wie werden betroffene Frauen in der Schweiz beraten? Am HUG arbeiten die Spezialistinnen oft mit 3D-Modellen und Fotos, um den Patientinnen die Anatomie zu erklären. Auch der Partner werden einbezogen. Anschliessend komme es sehr selten vor, dass eine Frau auf einen Wiederverschluss bestehe. «Aber es erfordert Kompetenzen», sagt Jasmin Abdulcadir, «nicht nur medizinische, sondern auch kulturelle Kompetenzen, um die Person abzuholen.» Man dürfe nicht einfach «Nein» sagen und die Frau in ihrer Not alleinlassen, sondern müsse sie beim Übergang in ein anderes kulturelles Wertesystem begleiten. Dieser kultursensible Umgang sei das A und O für die Betroffenen.
Wo steht das Schweizer Gesundheitswesen in Bezug auf kultursensiblen Umgang? In der Schweiz hat sich laut Jasmine Abdulcadir und weiteren Fachpersonen vieles zum Besseren gewandt. Das Netzwerk gegen Mädchenbeschneidung organisiert regelmässig Schulungen, die sich auch an das Gesundheitspersonal richten. Trotzdem fehle es in manchen Spitälern und Praxen an Wissen und Erfahrung im Umgang mit weiblicher Genitalbeschneidung. «Für Medizinerinnen und Mediziner sollte das Thema in das Grundstudium integriert werden», findet die Gynäkologin aus Genf.
Muss auch die Öffentlichkeit dazulernen? Spezialistinnen wie Jasmine Abdulcadir wünschen sich, dass man hierzulande den Frauen, die eine Beschneidung erlebt haben, mit mehr Empathie begegne und die komplexen Hintergründe der betroffenen Frauen anerkenne. Das Wort «Verstümmelung», das oft verwendet werde, entspreche nicht der Realität, die sie in der Sprechstunde antreffe: «Manchen geht es gut, anderen schlecht; die einen fühlen sich schön, andere traumatisiert. Aber es kommt sehr selten vor, dass eine Patientin zu mir sagt: ‹Ich bin verstümmelt.›»