«Wenn die Musik an ist, bestimmt sie, wie ich mich bewege. Manchmal bin ich so im Fluss, dass ich danach nicht mehr weiss, was ich getan habe.» Tanzen ist das Lebenselixier des 67-jährigen Andrzej Webers. Während andere durch die Gegend joggen, hält er sich mit Tanzen fit. Er tanzt immer und überall – wo ihm gerade danach ist. Oft sieht man Weber auch, wie er mitten durch St. Gallen tanzt.
Den Mann mit dem Kopfhörer auf dem graumelierten Haupt kennt in der Ostschweizer Stadt jeder. Immer wieder winken ihm Menschen zu oder halten für einen kurzen Schwatz mit ihm an, bevor Andrzej Weber wieder voller Lebensfreude tänzelnd in die nächste Gasse abbiegt.
Mein Körper hat geschrien: Musik!
So viel positive Energie hat er nicht immer verspürt. Vor drei Jahren fällt er in eine schwere Lebenskrise. Kindheitstraumata holen ihn ein, die Isolation während der Coronazeit verschlimmert die Situation. Der mittlerweile pensionierte Elektrotechniker spricht von einem Burnout, wenn er auf diese Zeit zurückblickt: «Ich hatte jede Nacht Panikattacken. Ich hatte Schmerzen am ganzen Körper und wusste nicht, woher diese kommen.» Irgendwann ist sein Leiden so schlimm, dass er notfallmässig ins Spital muss. Andrzej Weber wird bewusst, dass er in eine Depression gefallen ist.
Sein Genesungsweg führt ihn in eine Sprechspunde für mentale Gesundheit – und ins Tanzstudio. «Es war einfach ein Impuls meines Körpers. Er hat ganz laut geschrien: Musik!» Es ist für Weber damals kein einfacher Schritt, einen Tanzkurs zu besuchen: «Ich hatte Angst, Kontakt mit anderen Menschen aufzunehmen. Die Tanzschule war der erste Ort, an dem ich mich getraut habe, wieder einen anderen Menschen anzufassen.»
Tanzen fühlt sich an, als nähme mich die Mutter in den Arm.
Andrzej Weber kauft sich in dieser Zeit auch einen Kopfhörer – Musik und Tanz werden zu seinen ständigen Begleitern. Er tanzt fortan nicht nur nach Anleitung im Kurs. Ganz für sich allein beginnt er, sich rhythmisch durch die Gegend zu bewegen. Seinen Gefühlen lässt er dabei freien Lauf. «Als ich das erste Mal auf der Strasse tanzte, habe ich Blut und Wasser geschwitzt», erinnert er sich. Doch irgendwann konnte er diese Hemmungen fallen lassen: «Sobald ich Musik gehört habe, war ich in einer anderen Welt.»
Über 20'000 Schritte am Tag sind für Weber keine Seltenheit. Das hält ihn fit – und mental gesund: «Für mich ist es wie Medizin. Wenn ich tanze, fühlt es sich wie als Kind an, als einen die Mutter in den Arm genommen hat.»
Mit seiner Intuition, sich mit Tanz und Musik Gutes zu tun, hat Weber ins Schwarze getroffen. Denn Tanzen wirkt sich in vielerlei Hinsicht positiv auf die Psyche aus. Zum einen ist da die Bewegung: «Nicht nur unser Körper braucht Bewegung – vor allem unser Gehirn profitiert», sagt Julia F. Christensen. Die ehemalige Profitänzerin ist Neurowissenschaftlerin, Psychologin und Autorin des Bestsellers «Tanzen ist die Beste Medizin». «Die Systeme unseres Gehirns für Gefühle, für Sprache, für das Gedächtnis oder die Sensorik sind alle mit dem motorischen System verbunden.» Deshalb ist laut Christensen genügend Bewegung für die Gesundheit unseres Gehirns und unserer Psyche so wichtig.
Beim Tanzen kommen aber noch zwei weitere Ebenen hinzu, die sich positiv auf die Stimmung auswirken. Einerseits ist da die Musik: So lösen beispielsweise Synkopen kleine Glücksgefühle aus. Synkopen sind Variationen im rhythmischen Motiv eines Musikstücks. Diese sorgen bei den Zuhörenden für Spannung und Überraschung. «Wir empfinden solche Momente als besonders angenehm und haben Schmetterlinge im Bauch, wenn die Musik dann wieder richtig einsetzt.»
Eine weitere Ebene, welche beim Tanzen zentral ist für das psychische Wohlbefinden, sind die sozialen Effekte. «Unser Gehirn braucht andere Menschen, um gesund zu bleiben. Gerade in unserer heutigen Welt kommt das Soziale häufig viel zu kurz», so Christensen.
Tanzen gegen Parkinson, MS und Demenz
Immer mehr Studien und Forschungsarbeiten kommen zum Schluss, dass Tanzen bei den unterschiedlichsten Erkrankungen positive Effekte auf die Gesundheit haben kann. Gut dokumentiert ist beispielsweise, dass Tanzen präventiv gegen Demenz wirkt. Aber auch MS- und Parkinson-Betroffene können von regelmässigem Tanzen profitieren. Diese Erfahrung macht auch Isabel Gut. Vor bald acht Jahren hat sie die Diagnose Parkinson erhalten.
«Seitdem ich Parkinson habe, bin ich weniger beweglich. Es ist eine Herausforderung, über eine längere Strecke gleichmässig zu laufen.» Weil Tanzen in ihrem Leben schon immer eine grosse Rolle spielte, hat sie sich für einen Tanzkurs entschieden. Sie ist überzeugt: «Der Takt der Musik gibt genau an, was man zu tun hat. Das hilft mir bei meiner Krankheit, den Körper zu spüren.»
Gut ist eine der Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Projekts «Connect», ein Tanzkurs für MS- und Parkinson-Betroffene. Das Pilotprojekt wurde vom Opernhaus Zürich und der Tonhalle-Gesellschaft gemeinsam lanciert. Neurologinnen und Neurologen der Universität Zürich unterstützen das Projekt mit ihrem Fachwissen.
Das Ziel von Kursleiterin Clare Guss-West ist es, mit den Teilnehmerinnen und Teilnehmern tanzend Geschichten zu erzählen: «So fokussieren wir die Aufmerksamkeit ganz gezielt, wodurch der Körper Dopamin produziert. Parkinson-Betroffene haben einen Dopamin-Mangel, was die Koordination von Bewegungen so schwierig macht.»
Die Wirkung des Tanzens ist richtiggehend magisch.
Clare Guss-West ist Choreographin und Pionierin, wenn es um heilendes Tanzen geht. Laut ihr habe Tanzen das Potenzial, Symptome bei Parkinson und MS zu verlangsamen. Dies zeige der aktuelle Stand der Forschung. «Das ist richtiggehend magisch. Keine pharmazeutische Pille kann das heute auf diese Weise bewirken», so Guss-West.
Diesen «magischen» Effekt stellt auch Isabel Gut bei sich fest: «Wenn ich aus dem Kurs rauskomme, spüre ich manchmal eine Art Prickeln im Kopf. Es gibt mir das Gefühl: Da ist etwas passiert.»