Maelas Eltern haben sich getrennt, als sie elf Jahre alt war. Ihre Eltern hat sie kaum friedlich erlebt – weder vor noch nach der Trennung. Zuhause gab es viel Streit, die heute 18-Jährige konnte in dieser Zeit kaum einschlafen. «Jeden Abend habe ich meine Eltern gehört und hatte sehr viele Albträume», sagt sie im Rückblick.
Diese Zeit sei schlimm gewesen und habe ihr psychisch stark zu schaffen gemacht. Maela entwickelte Probleme mit dem Essverhalten und hatte kurzzeitig Suizidgedanken.
Zwei Jahrzehnte Forschung zeigen: Das Risiko für psychische Erkrankungen im Erwachsenenalter – wie etwa eine Depression – erhöht sich bei Kindern aus geschiedenen Familien um etwa 57 Prozent im Vergleich zu intakten Familien. Eine klinische Studie zeigte zudem Folgen für das Immunsystem auf. Kinder aus konfliktreichen Trennungen hatten demnach mehr Infekte und Allergien als andere Kinder.
Auch Miras Eltern haben sich getrennt. Im Gegensatz zu Maelas Eltern kam die Trennung vor vier Jahren praktisch aus dem Nichts. Ein grosser Einschnitt im Leben der 22-jährigen Bratsche-Studentin.
Die überraschende Trennung sei schwer zu verdauen gewesen – für Mira und ihre jüngeren Brüder. Die Eltern hätten zunächst versucht, Eltern zu bleiben und gemeinsam Feste wie Weihnachten zu feiern, doch das sei nicht gegangen. «Ich war traurig und wütend und konnte nicht verstehen, wie von einem Tag auf den anderen so viel ändern kann», sagt sie.
Jedes zehnte Scheidungskind verliert den Kontakt zu einem Elternteil
Wie Maela und Mira geht es vielen Kindern. Die Zahl der Scheidungen ist in der Mitte des vergangenen Jahrhunderts stark angestiegen (Trennungen von unverheirateten Paaren werden nicht erfasst).
Im Jahr 2022 wurden in der Schweiz 16’201 Ehen geschieden, mit insgesamt mehr als 13’303 unmündigen Kindern. Jedes zehnte Scheidungskind verliert gemäss Familienbericht des Bundesamts für Statistik (2021) den Kontakt zu einem Elternteil. Nach Schätzungen von Fachpersonen ist jedes zehnte Kind so belastet, dass eine Einzeltherapie ratsam wäre.
Gehe eine Familie in die Brüche, würden die Nachkommen zu oft aus dem Fokus geraten, sagt Sabine Brunner, Psychotherapeutin am Marie-Meierhofer-Institut für das Kind. Mama und Papa seien oft stark mit sich selbst und ihren eigenen Emotionen beschäftigt. «Doch die Kinder bräuchten gerade in dieser Zeit viel Nähe und Auseinandersetzung mit den Eltern», so Brunner.
Schmerzliche Folgen für Seele und Körper
Wenn Mutter und Vater die Beziehung aufgeben, kann dies Kinder psychisch und auch körperlich stark belasten. «Wenn die Familie sich nicht neu organisieren und zur Ruhe finden kann, sondern es weiterhin Konflikte gibt, wirkt sich das langfristig schädlich auf die Kinder aus», sagt Psychotherapeutin Brunner.
Mehr zu den Scheidungs-Auswirkungen
Eine Trennung rangiere weit oben bei den belastenden Lebensereignissen – direkt nach dem Tod der Eltern, der als das Schlimmste genannt werde, sagt Sabine Walper, eine der führenden Trennungsforscherinnen: «Das lässt abschätzen, wie stark einschneidend ein solches Erlebnis im Leben von Kindern ist, und dass es in aller Regel mit einem grossen Verlust verbunden ist», sagt die Direktorin des Deutschen Jugendinstituts in München.
Folgen können auch erst Jahre später zum Vorschein kommen
Klar ist: Wenn Vater und Mutter auseinandergehen, muss das für die Nachkommen nicht zwingend zum Problem werden. Die meisten Kinder erholen sich gemäss Fachpersonen nach zwei bis sechs Jahren gut.
Wenn vor der Trennung alles gut war und der Konflikt erst danach beginnt, kann das grosse Auswirkungen für Kinder haben.
Eine Trennung könne sich auch wie eine Erlösung anfühlen, sagt Sabine Walper. Wenn es davor zu Streitigkeiten kam, wüssten Kinder unter Umständen besser, warum Mama und Papa auseinandergegangen sind.
Problematisch ist aber: Ein langanhaltender Scheidungskrieg könne sehr belastend sein, erst recht, wenn man zwischen die Fronten oder in Loyalitätskonflikte gerate. Kinder, deren Eltern sehr friedlich auseinandergingen, benötigten oft besondere Unterstützung, um die Trennung zu akzeptieren, so Walper.
Wenn davor alles gut war und der Konflikt erst danach beginnt, könne das grosse Auswirkungen für Kinder haben. Ihnen fehle dann Orientierung und Sicherheit. «Dann haben Kinder wirklich viel zu verlieren, was ihnen lange nachhängen kann», so die Forscherin.
Für Kinder und Jugendliche mit einer sehr zerstrittenen Elternschaft sei es langfristig meist günstiger, wenn diese sich trennen, als wenn sie zusammenbleiben – es sei denn, der Streit gehe nach dem Auflösen der Ehe unvermindert weiter. Auswirkungen von Trennungen können auch erst Jahre später aufbrechen, etwa wenn Trennungskinder selbst heiraten oder Kinder bekommen. Die Forschung spricht hier von einem «Schläfer-Effekt».
Viele Eltern fragen sich, wann der richtige Zeitpunkt ist, um sich zu trennen und bleiben häufig wegen der Kinder zusammen.
Laut Fachpersonen scheint es keinen idealen Zeitpunkt zu geben. Aber es gebe vulnerable Momente, bei denen besondere Vorsicht geboten scheint, etwa wenn ein Kind im Vorschulalter ist oder es sich in der Pubertät befindet, einer Phase im Leben, in der die Sprösslinge besonders stabile Bindungen brauchen, um sich vom Elternhaus abzulösen.
Scheidungskinder tun sich nach wie vor schwer
Ein Scheidungskind zu sein, galt lange als Stigma. Judith Wallerstein, «Grande Dame» der Scheidungskinder-Forschung, kam in über 25 Jahren Arbeit zum Schluss, dass diese Kinder fast zwangsläufig zu unglücklichen Erwachsenen werden – und prägte so das Stigma mit. Doch seither habe sich in der Gesellschaft vieles verändert, sagt die Münchner Scheidungskinder-Forscherin Sabine Walper.
Partnerschaften zu beenden sei kein Versagen mehr, neue Familienmodelle wie Patchwork weit verbreitet. Damit sei auch das Stigma «Scheidungskind» praktisch verschwunden.
Und doch warnt die Forscherin davor, Trennungen auf die leichte Schulter zu nehmen. Man könne nicht sagen, dass sich Kinder heute wesentlich leichter tun würden, wenn die Eltern auseinandergehen – auch wenn Scheidungen heute eine gewisse Normalität bekommen haben.
«Wenn Eltern sich trennen, ist es für die Kinder natürlich trotzdem im Einzelfall immer noch mal ein gravierendes Erlebnis, das für sie vieles durcheinanderbringen kann und ihnen auch vieles abverlangt», so die Forscherin.
Doch was tun? Wichtig ist gemäss Forscherin Walper, möglichst bald Ruhe ins Familiensystem zu bringen. «Eltern sollten den Kindern möglichst früh signalisieren, dass die Eltern die Trennung gut hinkriegen und dass das Kind auch in der neuen Situation in Sicherheit ist», so Walper.
Die Trennung der Eltern als Chance
Maela geht es heute deutlich besser als früher. Sie absolviert eine Lehre als Orthopädietechnikerin. Seit gut einem Jahr hat sie keinen Kontakt mehr zum Vater. Die Lehrstelle und das Team haben ihr geholfen, einen neuen Fokus zu finden.
Auch Sporttreiben wie Bouldern, ihre Freundschaften und eine Psychotherapie hätten ihr geholfen. Doch die Angst, die Muster der Eltern zu wiederholen, bleibt.
Ihre Eltern hätten sich früh kennengelernt und sehr schnell Nachwuchs gekriegt. «Das will ich anders machen», so Maela. Sie führt seit drei Jahren eine Beziehung und möchte in Ruhe sehen, wie das funktioniere.
Und sollte sie mal Kinder haben, sei ihr grösstes Ziel, falls es zu einer Trennung kommen würde, «dass die Kinder nichts damit zu tun haben oder viel geschützter sind als ich.»
Auch Mira geht es immer besser. Ihr haben enge Freundschaften geholfen, durch die Trennung zu kommen – und eine Psychotherapie.
Heute versuche sie, die Trennung als Chance zu verstehen. «Ich möchte wachsen und lernen und nicht in der Opferrolle bleiben», so Mira. Sie hoffe, dass möglichst bald wieder Ruhe einkehre und die Spannung nachlasse.