Cyril Kammer sitzt am Ufer des Brienzersees und krault Hund Heiko. Der 29-Jährige ist gross, sieht gut aus und wirkt selbstbewusst.
Nichts deutet auf eine narzisstische Art hin, bis er sagt: «Mein Ziel war es, der jüngste Selfmade-Millionär – nein, Milliardär der Schweiz zu werden». Cyril Kammer glaubte für Grosses bestimmt zu sein. Aber es kam anders.
Überraschende Diagnose
Vor bald drei Jahren erlitt der Brienzer einen psychischen Zusammenbruch. Seither ist er in therapeutischer Behandlung und arbeitet mit viel eigenem Effort an seiner Persönlichkeit. Genauer gesagt an seinem narzisstischen Teil in sich.
Cyril wurde wegen einer schweren Depression und Suizidgedanken in die Privatklinik Meiringen eingeliefert. Ärzte in verschiedenen Kliniken analysierten Cyrils seelisches Leiden und er bekam die Diagnose: «Vulnerabler Narzissmus».
«Als die Ärztin die Diagnose stellte, war ich komplett baff. Sie redete weiter und ich konnte es nicht glauben. Ich ein Narzisst? Niemals! Ich war felsenfest davon überzeugt, dass ich kein Narzisst bin», erinnert sich Kammer – immer noch sichtlich empört.
Er glaubte damals, dass Narzissten oder Narzisstinnen keine Empathie empfinden können. Er aber sei doch sehr sozial und kümmere sich gerne um seine Freunde und die Familie.
Mein ‹Ich› war damals extrem gross.
Nach dem Schock versuchte er zu rekonstruieren, was narzisstisch an ihm sein könnte. Er schaute sich alte Videos an und bemerkt provokante Seiten an sich: «Ich beobachtete im Video, wie ich Unruhe stiftete. Wie ich meine Kollegen gegeneinander aufwiegelte. Ich stellte sie bloss in Situationen, die ihnen unangenehm waren. Ihre Wutausbrüche gaben mir Bestätigung.»
Auf die Frage, wie gross sein «Ich» damals gewesen sei, sagt Kammer: «Extrem gross.» Und heute? «Ein wenig kleiner.»
Grössenwahnsinnige Ambitionen
Cyril Kammer war damals vom Erfolg getrieben. Er glaubt an sich, wollte sein eigenes Business aufziehen und baute auf Plantagen in der Region CBD-Pflanzen für Arzneimittel an.
Die Blüten, das Rohmaterial für die Medikamente, verkaufte er im In- und Ausland. Er handelte in Spitzenzeiten mit über 250 Tonnen CBD.
Das Geschäft lief sehr gut, Cyril Kammer verdiente schnell viel Geld. «Ich habe allgemein die Veranlagung, wenn ich etwas will, dann erreiche ich es, egal, wie viel ich opfern muss. Ich arbeitete zielstrebig, schlief kaum. Ich wollte weiter, bis zuoberst.»
Plötzlich war ich nicht mehr der Erfolgreiche, sondern der Verlierer. Und das hatte keinen Platz in meinem Wertesystem!
Dann kam Corona und der Markt für CBD brach ein. Andere Geschäftszweige, die der eifrige Geschäftsmann anpackte, brachten ihm zu wenig Gewinn ein. «Meine Messlatte war hoch und alles, was darunter lag, befriedigte meinen Erfolgshunger nicht», sagt Cyril Kammer heute.
Er, der Tag und Nacht schuftete, fiel in ein Loch. Dazu kamen eine Trennung und die Erkrankung seiner Mutter.
«Die Tiefschläge und Misserfolge hatten einen extremen Effekt. Ich wollte nicht mehr weitermachen, hatte Suizidgedanken. Plötzlich war ich nicht mehr der Erfolgreiche, sondern der Verlierer. Und das hatte keinen Platz in meinem Wertesystem!»
Wenn Narzissten Hilfe suchen
Marc Walter, Klinikleiter für Psychiatrie und Psychotherapie der Psychiatrischen Dienste Aargau, hat Erfahrung mit Menschen, die an ihrer narzisstischen Persönlichkeitsstörung leiden: «Es gibt keinen Narzissten, der sagt, ich bin narzisstisch und komme in die Therapie. Keinen einzigen.»
Die Personen, die Marc Walter aufsuchen, kommen wegen Depressionen oder stecken in Lebenskrisen wie: Konkurse, Konflikte mit der Partnerin, übermässigem Alkoholkonsum oder auch bei Umbrüchen, wie der Pensionierung. Dahinter verstecke sich dann die narzisstische Problematik, die während der Sitzung ganz langsam zum Vorschein komme, sagt der Psychiater.
Holt sich eine Person Hilfe, dann ist das für den Therapeuten eine diffizile Aufgabe. Denn in einer Therapie werden zwangsläufig auch wunde Punkte angesprochen. Narzissten oder Narzisstinnen seien aber sehr sensibel und schnell gekränkt.
Deshalb baut der Psychiater Walter zuerst Vertrauen auf: «Der Therapeut sollte für den Narzissten anfangs wie eine Droge sein. Er muss sich auf den Patienten einlassen, merken, was ihm guttut, ihn loben und wenig Grenzen setzen. Diese Phase ist sehr wichtig, um eine Therapie erfolgreich zu starten.»
Erst, wenn das Vertrauen stabil sei, könne der Arzt den Narzissten oder die Narzisstin mit Kritik konfrontieren, fügt Walter hinzu.
Wie erfolgreich ist eine Therapie?
Je nach Motivation und Wille der Patienten können diese ihre narzisstischen Verhaltensweisen tatsächlich ändern. Zuerst gehe es darum, den gefallenen Narzissten zu helfen, ihren Selbstwert zurückzugewinnen und diesen zu stärken.
«Dann, in zweiter Linie, motiviere ich die Patienten für einen Perspektivenwechsel. Die Welt mit anderen Augen zu sehen. Beispielsweise, wenn der Narzisst plötzlich realisiert, wie seine Partnerin ihn wahrnimmt, wird er versuchen, sich anders zu verhalten.» Der Therapieerfolg sei aber auch von der Stärke der narzisstischen Persönlichkeitsstörung abhängig, sagt Marc Walter.
Wenn ich merke, dass ich von ich, ich, ich rede. Dann wechsle ich heute die Perspektive und frage: Wie geht es denn dir?
Sein Verhalten immer wieder analysieren und hinterfragen. Genau das hat Cyril Kammer aus Eigeninitiative gemacht. Er hat seine Antennen für heikle Momente geschärft.
Heute erkenne er sein narzisstisches Verhalten sofort und versuche es fortlaufend zu verändern. «Es sind kleine Dinge, beispielsweise: Wenn ich merke, dass ich von ich, ich, ich rede. Dann wechsle ich die Perspektive und frage: Wie geht es denn dir? Das ändert schon viel an der Stimmung.» Und an den Reaktionen seines Umfeldes.
Cyril Kammer sagt, dass er heute qualitativ bessere Beziehungen zu seinen Freunden habe. Weil er lernte, zuzuhören und auf ihre Bedürfnisse einzugehen. Auch beruflich hat er neue Weichen gestellt. Er will nicht mehr nur schnell, viel Geld verdienen, sondern das tun, was ihn erfüllt: Musik komponieren und produzieren.
Zurzeit arbeitet er an einem Album, das er bald veröffentlichen will. «Mir hilft die Musik, persönliche Themen zu verarbeiten und damit abzuschliessen», sagt Kammer.
Heute bin ich glücklicher – definitiv viel glücklicher.
Seit drei Jahren arbeitet Cyril Kammer nun schon selbstständig und hartnäckig an seinen narzisstischen Mustern. Es war anstrengend, sich in heiklen Situationen anders zu verhalten und es funktionierte auch nicht immer.
«Mit viel Übung aber kam ich Schrittchen für Schrittchen vorwärts und heute kann ich sagen: Ich bin clean», lächelt Cyril Kammer stolz. Und ergänzt: «Heute bin ich glücklicher – definitiv viel glücklicher.»