«Ich wollte nicht sterben, sondern mich einfach nicht mehr schlecht fühlen.» Leon (Name geändert), 20, hat mehrere Suizidversuche hinter sich. Den ersten im Alter von sieben, den letzten zehn Jahre später.
Aufgrund eines Geburtsgebrechens, verbunden mit zahlreichen Operationen, wurde Leon derart gemobbt, dass er versuchte, sich zu töten.
Barbara Schleuniger verlor ihren Bruder, als dieser so alt war wie Leon heute. «Wir wissen nicht, warum er nicht mehr leben wollte. Und das verfolgt uns seit 30 Jahren.»
Jetzt ist die freie Theologin mitunter tätig in der Nachsorge von Angehörigen, die einen Menschen durch Suizid verloren haben. Darunter auch immer wieder Jugendliche.
Suizidrate über europäischem Durchschnitt
Die Suizidrate von Heranwachsenden in der Schweiz stagniert, liegt jedoch über dem europäischen Durchschnitt. Gregor Berger, Kinder- und Jugendpsychiater an der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich, verweist auf den drastischen Anstieg von ambulanten psychiatrischen Behandlungen bei Kindern und Jugendlichen.
Er führt dies zurück auf eine Gesellschaft, die ihre Jugend überfordert.
Die Schweiz hat sehr hohe Ansprüche, sowohl an die Gesellschaft, aber vor allem auch an die Jugend.
Berger erklärt, es sei ein immenser Druck, dem sich seine jungen Patienten und Patientinnen ausgesetzt sehen. Gerade die Schweiz habe nämlich «sehr hohe Ansprüche, sowohl an die Gesellschaft, aber vor allem auch an die Jugend».
Das fängt schon bei der Frühförderung in der Primarschule an. Und geht weiter: bei Aufnahmeprüfungen für das Gymnasium beispielsweise. Oder sogar bei leistungsorientierten Selektionsverfahren in Sportvereinen.
Für die meisten Heranwachsenden ist das kein Problem. Aber ein kleiner Prozentsatz ist überfordert, entwickelt depressive Symptome und vermehrt Suizidgedanken.
Gregor Berger und sein Team entwickelten das Suizidpräventionsprogramm AdoASSIP als Ergänzung bestehender therapeutischer Massnahmen. Um Jugendliche wie Leon, die einen oder mehrere Suizidversuche überlebten, vor einem Rückfall zu bewahren.
Je trauriger ich mich fühlte, desto überzeugter war ich davon, eine Last zu sein.
Menschen mit Suizidgedanken sprechen oft davon, sich in einem «dunklen Tunnel ohne Ende» zu befinden. Sie fühlen den Drang, ihrem subjektiv erlebten Leiden ein Ende zu setzen, weil sie keinen anderen Ausweg sehen.
Auch Leon erinnert sich: «Je trauriger ich mich fühlte, desto überzeugter war ich davon, eine Last zu sein, worunter meine Familie sehr gelitten hat.» Und weil Leon seine Familie nicht leiden sehen wollte, dachte er, seinem Leben ein Ende zu setzen, sei das Beste für alle.
Helfen lassen wollte er sich nicht. Immer wieder täuschte er vor, es gehe ihm wieder gut. Bis auf eine Ausnahme: «Für den Geburtstag meiner Mutter wollte ich ein Geschenk kaufen. Dann merkte ich: Nichts geht mehr, ich schaffe das nicht.»
Schliesslich rief Leon seine Mutter an und erklärte, das einzige Geschenk, das er ihr heute machen könne, sei lebend nach Hause zu kommen.
Unschuldig schuldig? Das Leid der Angehörigen
Der Psychiater Gregor Berger weiss, welche Vorwürfe sich Familien nach einem Suizidversuch oder vollzogenen Suizid ihres Kindes machen. Aus diesem Grund sei es wichtig, bei allen therapeutischen Massnahmen auch die Familien eng einzubinden. Um ihnen das Gefühl einer Mitschuld zu nehmen.
Nachdem sich ihr Bruder das Leben genommen hatte, spürte auch Barbara Schleuniger eine zermürbende Mischung aus Ohnmacht, Wut und vor allem Schuld. Und als Leiterin einer Trauergruppe für Menschen, die eine nahestehende Person durch Suizid verloren haben, weiss sie, was die Zurückgebliebenen quält.
Meist handelt es sich um Fragen wie: Warum war ich an dem Tag nicht zu Hause? Oder: Warum war ich nur so ahnungslos? Schlimm seien zudem die versteckten Schuldzuweisungen Aussenstehender. Dies, so Barbara Schleuniger, komme leider immer noch viel zu oft vor.
Dem Leben eine Chance geben
Leon ist froh, am Leben zu sein. Das Suizidpräventionsprogramm AdoASSIP gibt ihm Stabilität. «Ich habe es verinnerlicht und gelernt, auf bestimmte Warnsignale zu reagieren. Magenprobleme beispielsweise.» Sodbrennen kennt er noch aus der Zeit, als es ihm psychisch schlecht ging.
Kehren solche Beschwerden zurück, könnten sie erste Anzeichen sein für eine neue mentale suizidale Krise: «Ich versuche dann möglichst wenig allein zu sein. Und falls es schlimmer wird, weiss ich, wo ich professionelle Unterstützung bekomme.»
Im Hinblick auf die Suizidalität bei Jugendlichen in der Schweiz wünscht sich Gregor Berger, Mitinitiant des Suizidpräventionsprogramms AdoASSIP, dass auch die Schulen sich vermehrt mit möglichen mentalen Krisen von Kindern und Jugendlichen auseinandersetzen.
Die Schülerinnen und Schüler sollten neben der richtigen Zahnhygiene und den Umgang mit sozialen Medien auch lernen, was bei suizidalen Krisen zu tun ist: «Ich glaube, es ist wichtig, dass man die Schüler während ihrer Schulzeit begleitet und immer wieder Zeit und Kraft investiert, wie man gesund erwachsen werden kann.»