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Mindset für mutiges Denken Wie kommen die Jugendlichen raus aus der Dauerkrise?

Überforderung, Depressionen, Suizidversuche: Noch nie ging es Schweizer Jugendlichen so schlecht. Das zeigen aktuelle Zahlen des Bundesamts für Statistik BFS , Studien der Kinder- und Jugendberatung ProJuventute und der CS-Jugendbarometer .

Warum trifft es gerade diejenigen so stark, die das Leben noch vor sich haben? Die deutsche Neurowissenschaftlerin Maren Urner hat ein Buch über das Hirn in der Krise geschrieben – und kennt Strategien, wie Jugendliche und Erwachsene aus dem Krisenmodus herausfinden.

Maren Urner

Neurowissenschaftlerin

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Maren Urner ist 1984 in Herford (Deutschland) geboren, hat Kognitions- und Neurowissenschaft studiert und in London promoviert. Sie ist Neurowissenschaftlerin und Professorin für Medienpsychologie.

2016 gründete sie das Online-Magazins «Perspective Daily», eines der ersten deutschsprachigen Portale, das sich dem «konstruktiven Journalismus» widmete. Seit 2019 ist sie Professorin für Medienpsychologie an der Media University of Applied Sciences in Köln.

Ihre Bücher sind allesamt Bestseller und tragen Titel wie «Schluss mit dem täglichen Weltuntergang. Wie wir uns gegen die digitale Vermüllung unserer Gehirne wehren» (2019). Oder « Raus aus der ewigen Dauerkrise: Mit dem Denken von morgen die Probleme von heute lösen» (2021).

SRF Wissen: Eine Krise folgt auf die Nächste. Was macht das mit dem Hirn eines Jugendlichen?

Maren Urner: Grundsätzlich sind Krisen für ein heranwachsendes Gehirn sehr wichtig – wenn sie dosiert auftreten. Momente, in denen es nicht so läuft, wie geplant, sind elementar. Dadurch werden neue neuronale Verbindungen geknüpft. Wir lernen, beim nächsten Mal anders zu handeln.

Krisen verändern das Gehirn also?

Genau – wie andere Erfahrungen auch. Diese Fähigkeit des Gehirns nennt sich «Neuroplastizität», die Grundvoraussetzung für jede Art von Lernen. In der Jugend ist die Plastizität am stärksten ausgeprägt, was dazu führt, dass jede Krise – egal wie gross – intensiver hängen bleibt.

Auch das Verhalten vieler Eltern ist kontraproduktiv.

Und deshalb geht es Jugendlichen so schlecht?

Unter anderem, ja. Aber auch das Verhalten vieler Eltern ist kontraproduktiv.

Wie meinen Sie das?

Gesamtgesellschaftlich beobachten wir, dass Eltern immer überfürsorglicher werden. Stichwort: Helikopter-Eltern. Das Problem ist, dass Kinder so nicht lernen, mit Krisensituationen umzugehen. Es ist immer jemand da, der Reibungen und Scheitern verhindert. Irgendwann sind Jugendliche aber nun mal auf sich allein gestellt – und haben nie gelernt, mit Unsicherheiten umzugehen.

Hilfsangebote für Betroffene

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Es gibt verschiedene Stellen, an die sich Menschen in Krisensituationen wenden können. Rund um die Uhr, vertraulich und kostenlos.

Was trägt noch zur Überlastung bei?

In der Pubertät wird die eigene Identität gebildet, gleichzeitig richtet sich der Blick in die Zukunft: Wer bin ich jetzt? Wer will ich sein? Was habe ich und was brauche ich noch? Ist der Raum, der mit diesen Fragen aufgeht, zu gross, fühlen sich junge Menschen haltlos. In der Neurowissenschaft heisst das «Paradox of Choice», Paradox der Wahl.

Zu viele Möglichkeiten überfordern uns.

Genau. Studien zeigen, dass wenn wir zwischen sechs und 30 Marmeladensorten wählen können, zufriedener mit unserer Entscheidung sind, wenn wir nur sechs zur Auswahl haben.

Übertragen auf die Entwicklungsphase heisst das: Wenn das Gehirn aufgrund der endlosen Möglichkeiten keine Orientierung hat, und auch nicht gelernt hat, mit Krisen umzugehen, kommt es zu Überforderung.

Was sind die Folgen?

Anspannung. Eigentlich hilft sie uns, ob Teenie oder Erwachsener, bei akutem Stress, Kräfte zu mobilisieren. Aktuell kommen wir aber durch die gefühlte Omnipräsenz negativer News nicht mehr aus dem Überforderungsmodus raus. Dafür ist unser Gehirn nicht gemacht.

Die «Omnipräsenz negativer News» oder: Negativitätsbias

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Der Negativitätsbias oder die Negativitätsdominanz beschreibt das psychologische Phänomen, bei dem negative Gedanken oder Erlebnisse stärker als neutrale oder positive auf uns wirken – auch wenn sie in gleicher Intensität auftreten.

Für unsere steinzeitlichen Vorfahren war dieser Fokus aufs Negative überlebenswichtig. Sie mussten sich merken, welche Früchte giftig waren oder wo die Höhle des Säbelzahntigers ist. Aus diesem Grund wurden alle Erfahrungen und Sinneseindrücke genauestens analysiert und für die Zukunft gespeichert. Tatsächlich hat sich unser Gehirn seit der Steinzeit nicht gross verändert. Dass auch heute Menschen an negativen Erinnerungen kleben bleiben, haben wir also diesem Überlebensmodus zu verdanken.

Die beiden Forschenden Lucas LaFreniere und Michelle Newman haben in einer 2020 veröffentlichten Studie gezeigt, dass die Menge der negativen Emotionen, die Menschen mit sich herumtragen, in der Regel unverhältnismässig hoch ist. 91,4 Prozent der Sorgen, die sich Menschen täglich machen, seien völlig nutzlos, weil die Probleme, um die sie kreisen, niemals eintreten.

Und das heisst?

Dass wir die Regionen abschalten, die dafür da sind, langfristige Entscheidungen zu treffen.

Abschalten?

Ja. Wir befinden uns im Kampf-Flucht-Modus und die Regionen, die hinter der Stirn liegen, also der präfrontale Kortex, sind nicht mehr zugänglich. Der Teil ist aber wichtig für gut überlegte Entscheidungen und für zukunftsorientiertes Verhalten.

Wie kommen wir da wieder raus?

Indem wir unser Mindset auf «mutig» programmieren. Helfen kann dabei das «dynamische Denken». Es ist mein Gegenentwurf zum statischen Denken, das an Altem festhält. Wenn wir, egal in welchem Alter, den Mut haben, Dinge und Verhaltensweisen neu zu denken, entkommen wir dem Krisenmodus.

Die drei Zutaten des «dynamischen Denkens»

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  • Die erste Zutat dieses Konzepts lautet: bessere Fragen stellen. Statt nach dem «Wogegen», nach dem «Wofür» zu fragen. So schauen wir automatisch nach vorne. Was möchte ich erreichen? Was kann mir dabei helfen? Und vor allem: Wer kann mir dabei helfen?
  • Da sind wir bei der zweiten Zutat: neue Gruppen denken. Unser Gehirn gruppiert automatisch, wenn wir anderen Menschen gegenübertreten: Wer gehört dazu und wer nicht. Diesen Reflex können wir aber immer auch hinterfragen. Statt «Was trennt uns gerade?» fragen: Was verbindet uns? Wir sind soziale Wesen, das macht uns stark.
  • Die letzte Zutat heisst: neue Geschichten erzählen. Geschichten darüber, was es bedeutet, ein gesunder und glücklicher Mensch zu sein. Etliche Studien zeigen, dass funktionierende Beziehungen dabei die wichtigste Rolle spielen. Beziehungen, die uns guttun, aktivieren unser Belohnungssystem.

Das Gespräch führte Gina Buhl.

Einstein, SRF1, 22.12.2022, 21:05 Uhr ; 

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