«Ich wusste, so kann ich diesen Job nicht ein Leben lang machen.» Vor acht Jahren stand Primarlehrerin Nathalie Bühler an einem Wendepunkt: Herausfordernde pubertierende Jungs, psychisch belastete Kinder, Einspringen für Kollegen, die wegen Burnouts ausfallen, und privat der Verlust einer nahestehenden Person. All das wurde ihr irgendwann zu viel und sie wollte nicht, dass ihr die Situation entgleitet. Deshalb entschied sie sich damals für Achtsamkeit.
Ich beobachte, dass die Konzentrationsspanne der Kinder länger wird, gleichzeitig können sie auch Stress abbauen.
Sie absolvierte einen sogenannten «MBSR»-Kurs: Stressbewältigung durch Achtsamkeit. Das Programm basiert auf traditionellen Meditationstechniken, die wissenschaftlich auf ihre Wirksamkeit überprüft worden sind. Dort habe sie erstmals realisiert, wie sehr der Stress in der Schule sie belastete. «Gleichzeitig wurde mir bewusst, dass ich etwas in der Beziehung zu den Kindern verändern musste: nicht aus dem Affekt reagieren, sondern präsent sein und die Bedürfnisse der Kinder unvoreingenommen wahrnehmen», erklärt die Lehrerin. In diesem Kurs lernte sie, sich innerlich abzugrenzen und auch in stressigen Momenten ruhig zu bleiben, was sich positiv auf den Unterricht auswirkte.
Achtsamkeit für Lehrpersonen und Kinder
In stressigen Momenten ruhig bleiben: Das sollen auch Kinder im Unterricht. Sie müssen sich konzentrieren, auch wenn sich Kolleginnen und Kollegen links und rechts miteinander unterhalten. Nathalie Bühler integriert heute Achtsamkeit in den Unterricht ihrer fünften und sechsten Klasse in Bern Bümpliz.
Den Morgen beginnt die Lehrerin jeweils mit einer Achtsamkeitsübung: Die Kinder sitzen still im Kreis, schliessen die Augen und konzentrieren sich auf ihren Körper. Sie sollen beobachten, ohne zu bewerten. Wenn sie irgendetwas in einem Körperteil spüren, dürfen sie die Hand auf diese Körperstelle legen. Stillsitzen und den Körper beobachten – solche Übungen helfen später auch im Unterricht, so die Lehrerin: «Ich beobachte, dass die Konzentrationsspanne der Kinder länger wird, gleichzeitig können sie auch Stress abbauen.»
Nach der Übung erzählt jedes Kind, wie es sich gerade fühlt. Erst dann ist die Klasse bereit für Mathematik. «Solche Übergänge sind wichtig», sagt Nathalie Bühler. Ein Schultag sei intensiv für alle, da seien Momente der Ruhe, in denen die Klasse gemeinsam etwas für ihr Wohlbefinden tue, wichtig. Das Bewusstsein der eigenen Befindlichkeit sowie derjenigen der anderen sei ein Grundelement der Achtsamkeit. So entstehe ein konstruktiver Umgang mit den anderen und mit sich selbst.
Gefühle nicht zum Tabu machen
Primarlehrerin Nathalie Bühler findet, dass sich die Klasse verändert hat, seit sie Achtsamkeit in den Unterricht integriert. «Das Klassenklima hat sich gewandelt und auch das Verständnis füreinander.»
Zu Hause hat man nicht immer die Gelegenheit über Gefühle zu sprechen, deshalb gefällt es mir, wenn wir das in der Klasse tun.
Das bestätigen auch ihre Schülerinnen und Schüler: «Zu Hause hat man nicht immer die Gelegenheit über Gefühle zu sprechen, deshalb gefällt es mir, wenn wir das in der Klasse tun», erklärt Elsa. Anik meint, dass sich mit Achtsamkeit die Konzentration in der Klasse verändert habe: «In der fünften Klasse waren wir sehr unkonzentriert, das ist jetzt viel besser geworden.» Alec kommt nun besser zur Ruhe: «Mir gefällt, dass wir die Übungen jeden Morgen machen, dann bin ich danach nicht mehr so kribbelig und unruhig.»
Kinder sollen sich wohlfühlen
Die Lehrerin arbeitet dafür mit dem Achtsamkeitsprogramm MoMento, das eigens für Schulklassen entwickelt wurde. Es ist ein Programm von vielen, das für Lehrpersonen und Familien angeboten wird, um Lebenskompetenzen von Kindern zu fördern.
Die Lebenskompetenz fördern – das ist auch ein erklärtes Ziel des Lehrplans 21. Sogenanntes sozio-emotionales Lernen umfasst Selbstwahrnehmung, Selbststeuerung, Beziehungskompetenz und verantwortungsbewusstes Entscheiden. Alles Fähigkeiten, die mit Achtsamkeit trainiert werden können. Dazu lasse sich mit solchen Übungen auch die Beziehung zu den Kindern vertiefen. «Kinder lernen besser, wenn sie sich in der Klasse wohlfühlen», erklärt Matthias Rüst, Geschäftsführer von MoMento Swiss.
Ausschlaggebend sei, dass die Lehrperson selbst diese Prinzipien vorlebe – den Kindern mit Ruhe und Aufmerksamkeit begegne, aber auch mit Struktur und Führung. «Kinder lernen am meisten über Vorbilder.»
Im Stress kurz durchatmen
Ein weiteres wichtiges Thema im Schulzimmer ist die Impulskontrolle. Die Kinder sollen üben, wie sie ihre Gefühle regulieren können. Anhand des Handmodells von Neurowissenschaftler Daniel Siegel lernen die Schülerinnen und Schüler, wie ihr Hirn funktioniert.
Ein in die Handfläche gedrückter Daumen illustriert eine Gefahrensituation. Die sogenannte untere Etage im Gehirn schlägt Alarm und es entstehen Gefühle wie Angst oder Stress. Aber was können die Kinder dagegen tun? Ruhig durchatmen. Dann kommt das Gehirn zur Ruhe und kann wieder rational denken. MoMento nennt das «die Strategie der Pause».
Beim Durchatmen legen sich die Finger schützend über den Daumen und ermöglichen so ein überlegtes Handeln. Die Finger symbolisieren die sogenannte obere Etage, die Grosshirnrinde, welche Gefühle reguliert. Mit diesem Handmodell können sich die Kinder diesen «Beruhigungsvorgang» immer wieder in Erinnerung rufen.
Wirkung zeige das zum Beispiel im Sport, so Nathalie Bühler. Wenn eine Mannschaft verliere, hätten sich die Kinder früher so einiges an den Kopf geworfen. Heute würden sie schneller mal sagen: «Stopp, das ist mir zu viel.» Nathalie Bühler und auch die Kinder fühlen sich heute wohler in der Klasse. Und auf die Frage, ob sie gerne unterrichte, antwortet die Primarlehrerin jetzt überzeugt: «Ja, sehr!»