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Zwischen Abwesenheit und Unvorhersehbarkeit
Aus Kultur kompakt vom 07.02.2022. Bild: IMAGO / Shotshop
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Neue Studie Traumatisierte Mütter haben weniger Einfühlungsvermögen

Traumatisierte Mütter können die Gefühle ihrer Kinder schlechter deuten. Es fällt ihnen daher schwer, ihre Kinder zu beruhigen. Mit Folgen fürs Kind.

Starke Gefühle gehören zum Leben. Vom ersten Lebenstag an. Wer kleinen Kindern zuschaut, sieht, wie heftig Gefühle sein können. Babys und Kinder können ihre Emotionen noch nicht selbstständig regulieren. Sie brauchen Bezugspersonen, die ihre Gefühle erkennen und ihnen helfen und beibringen, sich zu beruhigen – zum Beispiel, wenn das Kind traurig ist, Angst hat oder wütend ist.

Doch was ist, wenn die nächsten Menschen sich selbst kaum beruhigen können? Was passiert, wenn die engsten Personen unter heftigen negativen Gefühlen leiden? Dazu ist jetzt eine Studie des Nationalen Forschungsschwerpunkts NCCR-Synapsy erschienen.

Studie mit traumatisierten Müttern und deren Kindern

Ein Forschungsteam der Universität Genf und des Universitätsspitals Lausanne CHUV hat in einer Langzeitstudie das Einfühlungsvermögen von 61 Müttern in ihre sechs bis neun Jahre alten Kinder untersucht. Rund die Hälfte der Mütter war traumatisiert durch Gewalt und Missbrauch in der Kindheit.

Komplexe Traumatisierungen

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Das Diagnose-Klassifikationssystem ICD der Weltgesundheitsorganisation WHO unterscheidet seit seiner neuesten Ausgabe zwischen verschiedenen Formen posttraumatischer Belastungsstörungen:

Die «klassische» Diagnose der posttraumatischen Belastungsstörung erfasst v. a. Symptome wie Flashbacks als Reaktion auf einmalige, plötzlich auftretende Ereignisse von eher kurzer Dauer (Verkehrsunfälle, Amokläufe, Anschläge, Naturkatastrophen).

Die neu ins ICD 11 aufgenommene «Komplexe posttraumatische Belastungsstörung» bezieht sich dagegen auf die psychischen Folgen von längerfristigen, seriellen oder chronischen traumatischen Ereignissen (Gewalt in der Familie, jahrelanger sexueller Missbrauch, Vernachlässigung, Kriegskindheit).

Die traumatisierten Mütter, die an der Synapsy-Studie teilnahmen, leiden unter dieser komplexen Form von Traumatisierung. Neben klassischen Symptomen wie sich aufdrängenden Erinnerungen sind die Kernsymptome: Misstrauen, negatives Selbstbild, Veränderungen der Emotionsregulation und Dissoziationen (innerliches «Wegtreten» in bedrohlich erlebten Situationen).

Die Frage war: Wie gut erkennen traumatisierte Mütter – verglichen mit Müttern ohne Traumatisierung – die Gefühle ihrer Kinder? Wie gut können sie sich ins Kind hineinversetzen, es verstehen und beruhigen?

Die Studie zeigt: Traumatisierte Mütter erkennen schlechter als Mütter ohne Traumatisierung, was ihre Kinder fühlen. «Es fällt ihnen schwerer, die Emotionen ihrer Kinder richtig zu lesen oder vorwegzunehmen», fasst Daniel Schechter, Co-Autor und Synapsy-Projektleiter, die Resultate zusammen.

Eine Schildkröte in Not überfordert die Mütter

Den Müttern wurden unter anderem Zeichnungen von schwierigen Situationen gezeigt. Auf einem der Bilder war eine Schildkröte zu sehen, die tot auf dem Rücken in einem Glasgefäss liegt. Die Mütter sollten sich nun vorstellen, wie sich ihr Kind beim Anblick dieser Schildkröte fühlen würde. Sie konnten dazu zwischen vier Zeichnungen mit einem traurigen, einem wütenden, einem fröhlichen und einem neutralen Gesicht auswählen.

Die Mütter, die in ihrer Kindheit Gewalt ausgesetzt waren, konnten das deutlich schlechter als die Mütter der Kontrollgruppe ohne Traumatisierung. Mehr noch: «Vereinzelt nahmen die traumatisierten Mütter sogar an, dass ihr Kind lachen würde angesichts dieser Situation», beobachtete Dominik Moser, Co-Autor der Studie.

Generell schätzten die traumatisierten Mütter ihre Kinder und deren emotionale Reaktionen negativer ein als Mütter ohne Traumatisierung: «Sie unterschätzen die emotionalen Fähigkeiten ihrer Kinder und bewerten beispielsweise depressive Symptome ihres Kindes als aggressives Verhalten», so Dominik Moser.

Die Vergangenheit überschwemmt die Gegenwart

Menschen mit einer posttraumatischen Belastungsstörung werden immer wieder vom Erlebten eingeholt. Ein Geräusch, ein Geruch, eine Berührung können Erinnerungen und die damit verbundenen Gefühle – Schrecken, Ohnmacht, Grauen – jederzeit triggern. So, als würde das Erlebte jetzt gerade wieder passieren.

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«Ich habe eine posttraumatische Belastungsstörung»
aus Rehmann vom 24.01.2022.
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Die Betroffenen versuchen dies oft mit allen Mitteln zu vermeiden. Manche sind extrem wachsam und ängstlich, ständig auf mögliche Gefahren gefasst und immer darum bemüht, Triggern auszuweichen. Manche geraten emotional schnell aus dem Gleichgewicht, andere fühlen sich dumpf und gefühllos.

Das eigene Kind löst Ängste aus

Vor diesem Hintergrund erklärt sich Daniel Schechter das reduzierte Einfühlungsvermögen traumatisierter Mütter: «Ein Kind, das starke Gefühle von Angst, Trauer und Wut zeigt, ein Kind, das schreit oder weint, ist für diese Mütter eine Bedrohung. Ihr Kind erschreckt sie.» Es erinnere die Mütter an die Schrecken ihrer eigenen Kindheit, an Ohnmacht, an die Aggressionen des Täters. Das könne so weit gehen, sagt Daniel Schechter, dass Mütter sogar ein freudig aufgeregtes Kind als bedrohlich erlebten.

Ein Kind, das starke Gefühle von Angst, Trauer und Wut zeigt, ein Kind, das schreit oder weint, ist für diese Mütter eine Bedrohung.
Autor: Daniel Schechter Synapsy-Projektleiter

In diese alten Erinnerungen hineingestossen, sind traumatisierte Mütter oft vollständig mit ihren eigenen Emotionen beschäftigt. Es bleibt kaum Raum, sich um die Gefühle ihres Kindes zu kümmern. Aus Selbstschutz, nicht aus Egoismus.

Weitergabe des Traumas – Folgen für die Kinder

Das Synapsy-Team konnte aus den Daten lesen, dass die Kinder dieser Mütter weniger gut lernen, sich selbst zu beruhigen. Sie sind im Schnitt trotziger, aggressiver, aber auch ängstlicher und depressiver als andere Kinder. Auf diese Weise wirkt das Trauma der Mütter im Leben der Kinder fort.

Kinder leiden unter der emotionalen Abwesenheit der Mutter

Die Forschung zu traumatisierten Müttern ist verhältnismässig jung. Bei depressiven Müttern und anderen engen Bezugspersonen sind die Auswirkungen auf die Kinder besser erforscht.

Kinder depressiver Mütter leiden unter der chronischen emotionalen Abwesenheit der Erwachsenen, die sich eigentlich kümmern sollten. Viele Kinder denken, sie müssten helfen, die Mutter aufzumuntern oder glauben, es sei ihre Schuld, dass die Mutter, der Vater so traurig sind.

Traumatisierte Mütter verhalten sich unvorhersehbar

Kinder von traumatisierten Müttern leiden dagegen vor allem unter der Unvorhersehbarkeit. Sie wissen nie, was kommt, wenn der traumatisierte und getriggerte Vater zu schreien beginnt. Oder warum die Mutter plötzlich alle Plüschtiere in einen Abfallsack stopft, weil sie von der Erinnerung überflutet wird, wie sie als Kind mit einem Stofftier gewürgt wurde.

Depressive Mütter sind fürs Kind nicht erreichbar

Man kann diese beiden Gruppen nicht immer klar auseinanderhalten. Tatsächlich sind Traumatisierungen häufig mit Depressivität verknüpft. «Am schlimmsten ist die Kombination von Traumatisierung und Depression», so Daniel Schechter.

Den Kindern sei zuallererst geholfen, wenn es ihren Müttern besser gehe. Väter und andere enge Bezugspersonen wie die Grosseltern mit ins Boot zu holen und allenfalls zu schulen, sei ebenfalls schützend für das Kind. Gerade diese Kinder bräuchten ein besonders sicheres und vorhersagbares Umfeld – auch ausserhalb des Elternhauses.

Das kindliche Gehirn reagiert auf den mütterlichen Stress

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In früheren Studien hat sich gezeigt, dass schon ganz kleine Kinder traumatisierter Mütter einen veränderten Hirnstoffwechsel haben. Das Gehirn von ein- bis dreijährigen Kindern reagiert anders auf Stress. Es produziert bei emotionalem Stress im Schnitt geringere Mengen an Cortisol als das Gehirn von Kindern mit Müttern ohne Traumatisierung.

Cortisol ist ein Stress-Hormon. Es schützt u. a. vor negativen emotionalen Spitzen. Es wirkt beruhigend im Moment, schützt aber auch längerfristig vor extremen Angstreaktionen oder Angststörungen.

Auch bei Kindern depressiver Mütter lässt sich eine geringere Cortisol-Ausschüttung beobachten.

Das nächste Ziel der Forschenden von Synapsy ist es nun, herauszufinden, ob sich der Stress traumatisierter Mütter bereits während der Schwangerschaft auf das Kind überträgt.

Was den Kindern helfen kann

Die Bindung an sich kümmernde Erwachsene ermöglicht korrigierende Erfahrungen. Auch Lehrerinnen, Coaches oder Therapeutinnen dienen als Rollenmodell. Von ihnen können Kinder Schritt für Schritt einen alternativen Umgang mit den eigenen Gefühlen lernen. Sie schauten sich gewissermassen ab, wie sie sich bei heftigen Emotionen, Ärger, Wut, Trauer, Angst selbst beruhigen können – so Daniel Schechter.

Die Zahlen

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Es ist nicht klar, wie viele Frauen in der Kindheit traumatisiert wurden. In der Schweiz gibt es dazu nur Schätzungen. Die Studienautorinnen von Synapsy orientieren sich an den Fallzahlen häuslicher Gewalt. Diese trifft in der Schweiz zwischen 8 und 15 Prozent aller Kinder. Häusliche Gewalt in der Kindheit ist eine häufige Ursache für Traumafolgestörungen.

Lernen, Gefühle zu lesen

Für ihn und das Team sei sehr berührend gewesen, dass nicht wenige Mütter sich bewusst sind, wie sehr es ihnen schwerfällt, sich in ihre Kinder einzufühlen. Sie litten darunter und seien oft erleichtert, wenn man ihnen erklärt, warum das so ist.

Das nimmt Druck und Stress und macht es den Müttern vielleicht eher möglich, sich den Kindern zuzuwenden. Zudem hat Schechters Team die videobasierte Kurzzeittherapie CAVEAT entwickelt. Mütter üben anhand von Videosequenzen über Mutter-Kind-Interaktionen, Gefühle richtig zu erkennen. Die Resultate seien ermutigend.

SRF 2 Kultur kompakt, 07.02.2022, 11:29 Uhr

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