Zum Inhalt springen

Neuropsychologe zur WM «Wäre die Schweizer-Nati im Finale, würden wir mitfiebern»

Kaum etwas regt derart starke Emotionen in uns, wie König Fussball. Wir fiebern mit, jubeln, weinen und leiden. Und nun: WM in Katar. Kritik, Vorwürfe von Korruption und Menschenrechtsverletzungen, Boykott-Aufrufe, gar Verbote für Public-Viewings im öffentlichen Raum. Was macht das mit Fans?

Lutz Jäncke

Hirnforscher und Fusballkenner

Personen-Box aufklappen Personen-Box zuklappen

Neuropsychologe Lutz Jäncke ist einer der weltweit führenden Hirnforscher und beschäftigt sich seit Jahrzehnten mit dem Gehirn und dem menschlichen Verhalten. Mittlerweile emeritiert, forschte und lehrte Jäncke die letzten 20 Jahre an der Universität Zürich. 1957 in Wuppertal geboren, wurde Jäncke bereits als kleiner Junge Fussballfan, arbeitete später als Sportpsychologe und ist profunder Kenner der europäischen Fussballszene. Er ist Fan von Fortuna Düsseldorf.

SRF Wissen: Herr Jäncke, haben Sie als passionierter Fussballfan der WM entgegengefiebert?

Lutz Jäncke: Fiebern ist vielleicht nicht der richtige Ausdruck. Ich schaue der WM entgegen, aber es ist nicht mehr wie früher.

Die WM war immer ein Fest der Emotionen. Jetzt ist es ein Ereignis, über das wir nachdenken, anstatt uns den Gefühlen hinzugeben.

Ich denke, dass viele Menschen, auch ich, die WM diesmal mehr mit Sorge verfolgen. Die WM war eigentlich immer ein Fest der Emotionen. Jetzt ist es ein Ereignis, über das wir nachdenken, anstatt uns den Gefühlen hinzugeben.

Typisch für eine Fussball-WM ist, dass gefühlt alle Schweizerinnen und Schweizer die Nati unterstützen, auch wenn sie sich wenige Tage zuvor in Fankurven angefeindet haben oder sich nicht für Fussball interessieren. Warum ist das so?

Von aussen betrachtet, ist das ein merkwürdiges Phänomen, aber bei näherem Hinsehen macht es Sinn. Der Mensch ist ein soziales Wesen, das die Nähe zu anderen Menschen sucht. Dies führt zu Gruppenbildungen und sozialen Strukturen. In Gruppen schliessen sich Menschen zusammen, die die gleichen Meinungen teilen, die gleichen Ziele verfolgen und die gleichen Emotionen in bestimmten Kontexten empfinden.

Das Mitfiebern mit der Nationalmannschaft stärkt das Nationalgefühl und damit die Gruppenbindung, die wir anstreben.

Durch Austausch der Meinungen, Ziele und Emotionen synchronisieren sich Gruppenmitglieder. Das gibt Sicherheit und Orientierung. Unser Belohnungssystem reagiert mit dem Ausschütten von Dopamin. Vor allem in Situationen, die mit Unsicherheit verbunden sind, was beim Fussball zur Tagesordnung gehört, ist die Gruppenbindung ein grosser Vorteil.

Nie zuvor wurde ein Fussball-Grossanlass von derart viel negativen Schlagzeilen begleitet. Was macht das mit uns?

Diese Informationen haften an der WM wie ein Gewicht am Fusse eines Schwimmers. Jedem Fussballfan wird deutlich, dass der institutionalisierte Fussball nicht nur kommerzialisiert, sondern teilweise auch kriminalisiert ist.

«Kopf gegen Bauch» gilt also wohl für diese WM bei vielen. Wie gehen Menschen mit dieser Diskrepanz um?

Letztlich wird sich die Gruppenbindung des Fussballfans an seine Nation durchsetzen. Das Mitfiebern mit der Nati stärkt das Nationalgefühl und damit die Gruppenbindung, die wir anstreben.

Gibt es vergleichbare Situationen, in denen unser Gehirn mit derartigen Diskrepanzen umgehen muss?

Im Grunde sind wir ständig solchen Diskrepanzen ausgesetzt. Wir meistern sie allerdings in der Regel spielend. Das liegt daran, dass wir die Welt immer so interpretieren, dass möglichst wenig Diskrepanzen bestehen. Das, indem wir das Unangenehme fortlaufend abschwächen oder ausblenden.

Wenige Tage vor der WM war wenig bis gar kein Fussballfieber zu spüren. Bleibt das so?

Wir sind im Moment nicht durch den Fussball emotionalisiert, sondern – zu Recht – durch die Probleme bei der Vergabe und der Vorbereitung der WM verunsichert, verärgert und abgeschreckt. Ich bin aber nicht sicher, ob das lang anhält. Der Mensch ist im Kern ein unvernünftiges Wesen, das sich immer wieder auf merkwürdige Wege locken lässt.

Wäre die Schweiz im Finale, bin ich sicher, dass sich die Emotionen und das Nationalgefühl aus den Tiefen des Limbischen Systems seinen Weg in den Cortex bahnen würden. Dann wird ein Grossteil der Schweizer Bevölkerung vor dem Fernseher sitzen und die Schweizer-Nati feiern. Entgegen dem, was diese WM mit sich gebracht hat.

Das Gespräch führte Michael Keller.

Forum, 17.11.2022, 10:05 Uhr ; 

Meistgelesene Artikel