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Psychiater über Binge-Eating «Essen ist ein Versuch, Ordnung ins Chaos zu bringen»

Binge-Eating ist eine stille, oft übersehene Essstörung, die in der Schweiz rund 200'000 Menschen betrifft. Nach der Puls-Sendung «Ernährung und Psyche» meldeten sich viele Betroffene bei uns.

So wie diese 37-jährige* Frau aus Bern, die hier über ihr Leben mit den unkontrollierbaren Fressanfällen spricht. Psychiater Patrick Pasi, Leiter des Zentrums für Essstörungen an der USZ greift die Erfahrungen an dieser Stelle auf und ordnet sie ein.

Patrick Pasi

Leitender Psychiater für Essstörungen und Adipositas am USZ

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Patrick Pasi ist Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie am Universitätsspital Zürich. Er leitet dort den Bereich Essstörungen und Adipositas und forscht zu den psychischen und neurobiologischen Mechanismen von gestörtem Essverhalten. In seiner Arbeit verbindet er klinische Erfahrung mit Forschung – besonders zu Binge-Eating, emotionalem Essen und neuen Therapieansätzen.

SRF Wissen: Viele Betroffene beschreiben, dass sie von Magersucht oder restriktivem Essen in Binge-Eating «kippen». Warum ist das so typisch?

Patrick Pasi: Essstörungen haben denselben Kern: den Versuch, Kontrolle über Körper und Gefühle zu behalten. Wenn diese Kontrolle nachlässt, etwa nach einer Phase der Anorexie, fehlt plötzlich die Bremse – und Essen wird zur Emotionsregulation. Das ist kein Rückfall, sondern ein anderer Ausdruck derselben Dynamik.

Also kippt Kontrolle in Kontrollverlust?

Genau. Wer lange hungert, lernt, Belohnung zu unterdrücken. Wenn diese Rigidität nachlässt – etwa durch eine Therapie – reagiert das Belohnungssystem plötzlich wieder, manchmal ungehemmt. Dann übernehmen im Gehirn Regionen, die für Impulssteuerung und Belohnung zuständig sind: das limbische System, die Amygdala und der Nucleus accumbens. Gleichzeitig arbeitet der präfrontale Kortex, der eigentlich regulieren sollte, weniger stark. Das erklärt, warum viele Betroffene sagen, sie fühlten sich «wie ferngesteuert».

Out of Order: Was im Gehirn passiert

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Beim Binge-Eating gerät das Zusammenspiel zwischen Belohnung, Kontrolle und Gefühlen aus dem Gleichgewicht.

Wenn Betroffene essen, reagiert das Belohnungssystem im Gehirn – vor allem der Nucleus accumbens – besonders stark. Es schüttet Dopamin aus, das kurzfristig beruhigt und ein Gefühl von Erleichterung oder Trost vermittelt. Dieses Signal ist bei Menschen mit Binge-Eating deutlich ausgeprägter als bei Gesunden.

Gleichzeitig ist der präfrontale Kortex, der Impulse steuern und Entscheidungen kontrollieren soll, weniger aktiv. Er kann die starke Aktivierung des Belohnungssystems kaum bremsen – das erklärt das Gefühl, «wie ferngesteuert» zu sein.

Hinzu kommt: Stress und negative Emotionen verstärken die Reaktion. Das Gehirn lernt, dass Essen kurzfristig Spannungen senkt – eine Art konditionierte Beruhigung. Über die Zeit wird dieser Mechanismus automatisiert: Schon der Gedanke an Essen kann die gleiche Dopaminausschüttung anstossen.

Die Folge ist ein Teufelskreis: kurzfristige Erleichterung, gefolgt von Scham, erneuter Anspannung – und dem nächsten Anfall.

(Quellen: Universität Zürich, DSM-5-TR, National Institute of Mental Health 2024, American Journal of Psychiatry 2023)

Scham ist ein zentrales Gefühl beim Binge Eating. Warum?

Weil man den Kontrollverlust kaum verstecken kann. Essen wird zum sichtbaren Zeichen innerer Unruhe. Das führt zur ständigen Angst, dafür bewertet zu werden. In einer Gesellschaft, die Disziplin für Stärke hält, ist das besonders hart. So beginnt ein Kreislauf aus Anspannung, Essen, Scham und Rückzug – bis der nächste Anfall folgt.

Und wie lässt sich diese Spirale durchbrechen?

Der wichtigste Schritt ist, den Moment vor dem Anfall zu erkennen. Betroffene lernen in der Therapie, Spannung auszuhalten, statt sie sofort zu betäuben. Partner können helfen, indem sie diese Zeit überbrücken – zuhören und ablenken, nicht kontrollieren.

Oft erkennt das Umfeld die Krankheit aber erst spät oder gar nicht.

Stimmt. Bei Binge-Eating sieht man Betroffenen die Essstörung nicht sofort an – viele sind anfangs noch normalgewichtig oder nur leicht übergewichtig. Das Verhalten wird daher häufig verharmlost oder als «fehlende Willenskraft» gedeutet. Genau das verstärkt die Scham.

Die Betroffene sagt, sie lerne, sich nach Anfällen «nicht mehr zu bestrafen».

Ja, dabei war ihr Essverhalten ursprünglich ein Versuch, mit Angst oder Druck umzugehen – also eine Art Schutz. In der Therapie geht es darum, dieses Muster zu verstehen und zu ersetzen: aus Selbstverletzung wird Selbstfürsorge. Heilung bedeutet nicht, perfekt zu essen, sondern sich wieder zu vertrauen.

Welche Therapie bringt Betroffene wirklich weiter?

Am wirksamsten ist die kognitive Verhaltenstherapie. Sie macht Auslöser sichtbar und übt neue Strategien. Ergänzend hilft die interpersonelle Therapie, weil Rückzug oft Teil der Krankheit ist. Antidepressiva wie Fluoxetin können stützen – ersetzen Therapie aber nicht. Auch mit GLP-1-Agonisten wie Semaglutid wird derzeit geforscht.

Therapieformen, die helfen können

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Binge-Eating ist behandelbar – aber der Weg braucht Geduld. Rückfälle gehören dazu, weil sich im Gehirn alte Verknüpfungen nur langsam verändern.

  • Kognitive Verhaltenstherapie (KVT)
    Die KVT gilt als wirksamste Behandlung. Sie hilft Betroffenen, auslösende Situationen zu erkennen, automatische Gedanken («Ich habe versagt») zu hinterfragen und alternative Strategien zu üben – etwa Spannung auszuhalten, ohne zu essen.
  • Interpersonelle Therapie (IPT)
    Viele Betroffene ziehen sich aus Scham zurück. Die IPT stärkt soziale Beziehungen und Kommunikationsfähigkeiten. Das kann helfen, Druck abzubauen, bevor ein Anfall entsteht.
  • Selbstmitgefühl als Kern der Heilung
    Laut dem Psychiater Patrick Pasi ist Akzeptanz ein entscheidender Schritt: «Das Essverhalten war ursprünglich ein Schutz. Therapie heisst, Selbstverletzung langsam in Selbstfürsorge zu verwandeln.»
  • Medikamente und neue Ansätze
    Antidepressiva wie Fluoxetin (SSRI) können helfen, Stimmung und Impulskontrolle zu stabilisieren, ohne Gewichtszunahme zu fördern.
    Neue Medikamente wie GLP-1-Agonisten (z. B. Semaglutid) beeinflussen das Sättigungssystem im Gehirn und werden aktuell in Studien geprüft.

Es braucht also Kopf und Körper.

Genau. Die Veränderung passiert im Denken und Fühlen. Das Ziel ist, sich selbst wieder als verlässlichen Ort zu erleben – nicht das Essen.

Das Gespräch führte Gina Buhl.

Hier finden Sie Hilfe

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Wenn Sie selbst von Essanfällen, Scham oder einem veränderten Essverhalten betroffen sind, finden Sie Unterstützung bei:

  • Arbeitsgemeinschaft Essstörungen Schweiz (AES) – Informationen, Selbsthilfegruppen und Fachpersonen
  • Beratungsstellen für Essstörungen in allen grösseren Städten (z. B. Zürich, Bern, Basel)
  • Hausärzt:innen oder Psychotherapeut:innen, die auf Essstörungen spezialisiert sind
  • Telefon 143 – Die Dargebotene Hand (rund um die Uhr, anonym und kostenlos)

SRF1 Puls, 20.10.2025, 21:05 Uhr ; 

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