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Scham, Kontrolle, Essstörung Binge-Eating-Betroffene: «Essen war mein Weg, Druck loszuwerden»

Immer mehr Menschen in der Schweiz kämpfen mit unkontrollierbaren Essanfällen. Eine 37-Jährige beschreibt, wie sie nach einer Magersucht ins Binge-Eating rutschte – und langsam lernt, sich wieder zu vertrauen.

Für rund drei Prozent der Schweizer Bevölkerung ist Essen ein Ventil für Druck, Trost und Erschöpfung. Sie sind von einer Binge-Eating-Störung betroffen – oft unbemerkt. Weil man ihnen ihre unkontrollierbaren Essanfälle nicht ansieht und weil Scham, Vorurteile und Missverständnisse das offene Gespräch erschweren.

Wie gross das Thema aber ist, zeigte sich jüngst nach der Puls-Sendung «Ernährung und Psyche»: Im begleitenden Experten-Chat erreichten uns auffallend viele Fragen und Zuschriften von Menschen, die über Essanfälle, Scham und Kontrollverlust berichteten – Männer und Frauen, quer durch alle Altersgruppen.

Hier erzählt eine Betroffene* wie sie ins Binge-Eating gerutscht ist

«Ich dachte ehrlich, das Thema Essen wär für mich durch. Ich war jahrelang magersüchtig, hatte das Gefühl, ich hab’s irgendwann geschafft – konnte wieder normal essen, sogar mit Freunden essen gehen, ohne Panik. Und dann, ein paar Jahre später, war plötzlich alles anders. Nicht auf einen Schlag, eher schleichend. Erst war’s einfach manchmal zu viel. Dann konnte ich’s nicht mehr stoppen.

Ich weiss gar nicht, wie ich das beschreiben soll. Es ist nicht Hunger.

Es ist eher so ein innerer Druck, so eine Welle. Ich spür das Stunden vorher. Und ich weiss genau, was kommt – aber ich kann’s nicht aufhalten. Wenn’s losgeht, ist es wie ein Tunnel. Ich esse, bis mir schlecht wird, bis ich fast nicht mehr atmen kann.

Und gleichzeitig denk ich die ganze Zeit: Hör auf. Jetzt. Hör endlich auf. Aber ich kann nicht. Es ist, als wär ein Teil von mir ausgeschaltet.

Was ist Binge Eating?

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  • Binge-Eating ist die häufigste Essstörung bei Erwachsenen. Rund 2 bis 3 Prozent sind betroffen – im Vergleich zu etwa 1 Prozent bei Bulimie und 0,3 Prozent bei Anorexie.
  • Typisch sind wiederkehrende Episoden von unkontrollierbaren Essanfällen, meist ohne körperlichen Hunger.
  • Anders als bei Bulimie folgt kein Erbrechen oder exzessiver Sport und die Anfälle gehen mit starkem Kontrollverlust und Scham einher.
  • Laut dem Bundesamt für Gesundheit (BAG) sind in der Schweiz schätzungsweise rund 250'000 Menschen betroffen.
  • Eine Schweizer Studie, die alle Sprachregionen berücksichtigte und rund 10‘000 Personen untersuchte, ergab, dass 2.4 Prozent Frauen und 0.7. Prozent Männer unter Binge Eating leiden.

Danach kommt sofort Scham. Ich versuch, es zu verstecken – die Verpackungen, die Spuren. Ich tu so, als wär alles normal. Aber innerlich fühle ich mich leer und gleichzeitig zu viel. Mein Partner merkt natürlich, dass was nicht stimmt. Er will helfen, aber ich lass ihn nicht. Ich will nicht, dass er mich so sieht – nicht so schwach, nicht so kaputt.

Das Verrückte ist: Ich weiss genau, was passiert. Ich hab Therapieerfahrung, ich kenn die Mechanismen. Aber Wissen hilft nicht, wenn du mitten drin steckst. Es ist, als würde der Körper übernehmen und der Kopf schaut nur zu.

Ich bin jetzt wieder in Behandlung. Diesmal geht’s weniger um Kontrolle, sondern ums Verstehen. Meine Therapeutin redet viel über Selbstmitgefühl – das fand ich am Anfang fast absurd.

Wie soll ich Mitgefühl mit mir haben, wenn ich mich gerade selbst zerstöre? Aber langsam, wirklich langsam, begreife ich’s. Es geht nicht darum, perfekt zu werden, sondern aufzuhören, mich zu bestrafen, wenn es wieder passiert.

Manchmal gelingt mir ein Abend, an dem ich einfach essen kann – ohne Plan, ohne Zählen, ohne Drama. Das sind kleine Momente, aber sie fühlen sich neu an.

Ruhiger. Ein bisschen mehr wie ich selbst.

* Name der Redaktion bekannt

Weiterführendes Experteninterview

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«Essen ist kein Versagen, sondern ein Versuch, Ordnung ins Chaos zu bringen», sagt Psychiater Dr. Patrick Pasi vom Universitätsspital Zürich. Was im Körper und Gehirn dabei geschieht – und wie sich der Kreislauf durchbrechen lässt, erklärt er hier im Interview.

Hier finden Sie Hilfe

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    Wenn Sie selbst von Essanfällen, Scham oder einem gestörten Essverhalten betroffen sind, finden Sie Unterstützung bei:

  • Arbeitsgemeinschaft Ess-Störungen (AES) – Adressen und Beratungsstellen.
  • Hausärztin / Psychotherapeut:in – erste Anlaufstelle für Diagnose und Therapie.
  • Telefon 143 (Die Dargebotene Hand) – kostenlos, anonym, rund um die Uhr.
  • Pro Mente Sana – Beratung und Informationen.

SRF1 Puls, 20.10.2025, 21:05 Uhr

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