Für rund drei Prozent der Schweizer Bevölkerung ist Essen ein Ventil für Druck, Trost und Erschöpfung. Sie sind von einer Binge-Eating-Störung betroffen – oft unbemerkt. Weil man ihnen ihre unkontrollierbaren Essanfälle nicht ansieht und weil Scham, Vorurteile und Missverständnisse das offene Gespräch erschweren.
Wie gross das Thema aber ist, zeigte sich jüngst nach der Puls-Sendung «Ernährung und Psyche»: Im begleitenden Experten-Chat erreichten uns auffallend viele Fragen und Zuschriften von Menschen, die über Essanfälle, Scham und Kontrollverlust berichteten – Männer und Frauen, quer durch alle Altersgruppen.
Hier erzählt eine Betroffene* wie sie ins Binge-Eating gerutscht ist
«Ich dachte ehrlich, das Thema Essen wär für mich durch. Ich war jahrelang magersüchtig, hatte das Gefühl, ich hab’s irgendwann geschafft – konnte wieder normal essen, sogar mit Freunden essen gehen, ohne Panik. Und dann, ein paar Jahre später, war plötzlich alles anders. Nicht auf einen Schlag, eher schleichend. Erst war’s einfach manchmal zu viel. Dann konnte ich’s nicht mehr stoppen.
Ich weiss gar nicht, wie ich das beschreiben soll. Es ist nicht Hunger.
Es ist eher so ein innerer Druck, so eine Welle. Ich spür das Stunden vorher. Und ich weiss genau, was kommt – aber ich kann’s nicht aufhalten. Wenn’s losgeht, ist es wie ein Tunnel. Ich esse, bis mir schlecht wird, bis ich fast nicht mehr atmen kann.
Und gleichzeitig denk ich die ganze Zeit: Hör auf. Jetzt. Hör endlich auf. Aber ich kann nicht. Es ist, als wär ein Teil von mir ausgeschaltet.
Danach kommt sofort Scham. Ich versuch, es zu verstecken – die Verpackungen, die Spuren. Ich tu so, als wär alles normal. Aber innerlich fühle ich mich leer und gleichzeitig zu viel. Mein Partner merkt natürlich, dass was nicht stimmt. Er will helfen, aber ich lass ihn nicht. Ich will nicht, dass er mich so sieht – nicht so schwach, nicht so kaputt.
Das Verrückte ist: Ich weiss genau, was passiert. Ich hab Therapieerfahrung, ich kenn die Mechanismen. Aber Wissen hilft nicht, wenn du mitten drin steckst. Es ist, als würde der Körper übernehmen und der Kopf schaut nur zu.
Ich bin jetzt wieder in Behandlung. Diesmal geht’s weniger um Kontrolle, sondern ums Verstehen. Meine Therapeutin redet viel über Selbstmitgefühl – das fand ich am Anfang fast absurd.
Wie soll ich Mitgefühl mit mir haben, wenn ich mich gerade selbst zerstöre? Aber langsam, wirklich langsam, begreife ich’s. Es geht nicht darum, perfekt zu werden, sondern aufzuhören, mich zu bestrafen, wenn es wieder passiert.
Manchmal gelingt mir ein Abend, an dem ich einfach essen kann – ohne Plan, ohne Zählen, ohne Drama. Das sind kleine Momente, aber sie fühlen sich neu an.
Ruhiger. Ein bisschen mehr wie ich selbst.
* Name der Redaktion bekannt