«So ein Mist!», ruft Vre Harzenmoser, als sie das Ziel erreicht. Da wäre mehr drin gewesen bei diesem Orientierungslauf in Gais AI. Ihr Plan, den Wettbewerb gesund zu beenden, ist zwar aufgegangen, aber weil sie einen Posten verpasst hat, zählt der Lauf nicht.
Vre Harzenmoser ist mit ihren 93 Jahren die mit Abstand älteste Läuferin im Rennen. Bei allem Respekt vor der sportlichen Leistung: 90 oder sogar 100 Jahre alt zu werden, das ist der Schweiz nicht mehr ungewöhnlich.
Die Suche nach dem Jungbrunnen
Gab es 1919 nur zwei Hundertjährige in der Schweiz, waren es 2021 bereits stolze 1888 Personen, die dieses Alter erreichten. Das hat vor allem mit besserer Hygiene und medizinischer Versorgung zu tun.
Aber: Falten im Gesicht, ein ächzender Rücken, brüchiger Knochen oder typische Alterskrankheiten wie Diabetes oder Demenz, muss das sein? Nein, sind sich viele Forschende einig. «Altern ist ein biologisches Problem. Wir verstehen die Biologie dahinter so gut, dass wir sie auch beeinflussen können», so Altersforscher Collin Ewald.
Dem Schweizer ist es gelungen, die Lebenszeit von Fadenwürmern zu verdoppeln. Durch eine genetische Mutation lebten die Würmer nicht nur länger, sondern sie blieben sogar dauerhaft fit.
Ähnliches hat Alexander Eggel geschafft, Immunologe und Altersforscher am Berner Inselspital und der Universität Bern. Vor drei Jahren gelangen ihm und seinem Team der Durchbruch, indem sie den Alterungsprozess von Mäusen im Labor beeinflussten und sogar umkehrten. Dazu wurden alten Mäusen die Immunzellen von jungen Mäusen gespritzt, um sie so erfolgreich zu verjüngen.
Wollen wir wirklich ewig leben?
Die 93-jährige Vre Harzenmoser lebt allein. Sie nimmt die Treppe, nicht den Lift. Kochen, Wäsche waschen, einkaufen – Hilfe braucht sie keine. «Ich muss beweglich bleiben», meint die ehemalige Postangestellte, «schwimmen, wandern, Orientierungslauf – nur nicht einrosten, sonst werden Körper und Kopf müde». Und wenn es eine Wunderpille für das ewige Leben gäbe? Die würde sie nicht schlucken. Irgendwann dürfe auch mal Schluss sein, findet sie.
Einige Forschende sehen das anders. Jüngere Würmer, fittere Mäuse: Das chronologische Alter lässt sich zwar nicht beeinflussen, das biologische Alter – die körperliche und geistige Verfassung – jedoch schon. Aber funktioniert das auch beim Menschen?
In der Biotech-Branche ist um diese Frage ein regelrechter Hype ausgebrochen. Investoren stecken viel Geld in Start-ups. Einer US-Forschungsgruppe soll es sogar gelungen sein, das biologische Alter von Menschen um über zwei Jahre zurückzudrehen. Dafür hat eine Gruppe von neun Männern über ein Jahr lang einen Medikamenten-Cocktail zu sich genommen, unter anderem das Diabetes-Medikament Metformin, dem eine lebensverlängernde Wirkung zugeschrieben wird.
Die Studie erregte Aufmerksamkeit, weckte aber auch Kritik, da sie nur eine kleine Probanden-Gruppe untersuchte und keine Placebo-Kontrollgruppe berücksichtigte.
Zahlreiche Studien bei Tieren zeigen vielversprechende Resultate und Ansätze. Dass klinische Studien an Menschen noch folgen müssen, hindert einige Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler nicht daran, gross zu träumen. Allen voran Harvard-Professor David Sinclair, eine Art Popstar der Altersforschung. Er ist überzeugt, dass wir kurz davorstehen, das Rätsel des ewigen Lebens zu knacken – und dass der erste Mensch, der 150 Jahre oder älter wird, bereits geboren sei.
Altersforscher Eggel ist zurückhaltend. Visionäre wie Sinclair brauche es zwar, um das Forschungsfeld voranzubringen. Wenn man die Fakten anschaue, seien seine Aussagen aber schwierig nachzuvollziehen. Eggel erklärt: «Die Alters-Weltrekordhalterin ist nach wie vor Jeanne Calment, die 122 Jahre alt wurde. Ihr Rekord besteht bereits seit 25 Jahren.» Laut Eggel ein Indiz, dass es für die maximale Lebensspanne des Menschen ein Plateau bei 120 und 130 gebe.
Ohnehin sei es wichtiger, zu versuchen, den gesunden Teil des Lebens zu verlängern – statt das Leben an sich, meinen beide Schweizer Altersforscher. «Es bringt uns nichts, ein längeres Leben zu haben, aber die letzte Phase krank zu verbringen», erklärt Ewald.
Nicht nur auf die Gene verlassen
Vre Harzenmoser blättert durch das Familienalbum. Ihre Mutter starb mit 88 Jahren, der Vater wurde immerhin 75 Jahre alt. Das ist für damalige Verhältnisse durchaus alt, aber deswegen könne sie sich nicht allein auf ihre Gene verlassen, meint Vre.
Was ist denn das Geheimnis eines hohen Alters? Die 93-Jährige meint, weder gebe es ein Geheimnis, noch habe sie geplant, so alt zu werden. Natürlich war da immer der Sport. Und bei der Ernährung habe sie darauf geachtet, massvoll zu essen. «Trotzdem habe ich auf nichts verzichtet. Mal ein Glas Wein, etwas Süsses, aber ich esse seit einigen Jahren kein Fleisch mehr.»
Diese Strategie deckt sich mit wissenschaftlichen Erkenntnissen. Laut Forschung haben wir über 70 Prozent selber in der Hand, was unser Altern angeht. Den Rest bestimmen die Gene. Doch wie sieht ein Lebensstil aus, der uns gesund altern und länger leben lässt?
Antworten geben die Ältesten der Alten: Die Bewohner der sogenannten «Blue Zones», fünf Gebiete rund um die Welt, in denen die Menschen überdurchschnittlich alt werden. Dazu zählen Okinawa in Japan, Nikoya in Costa Rica, Ikaria in Griechenland, Loma Linda in Kalifornien und die italienische Insel Sardinien. Gemeinsam ist den Alters-Hotspots vor allem eines: gesundes Essen.
Die Erkenntnisse der Blue Zones lassen sich zwar nicht einfach so auf unseren Alltag übertragen, meint Patricia Chocano, Leiterin der Altersforschung am Institut für Hausarztmedizin der Universität Bern, doch gesunde Ernährung sei zentral, wie auch wissenschaftliche Studien zeigen.
Am besten untersucht ist die mediterrane Ernährung mit viel Obst, Nüssen und Gemüse und möglichst naturbelassenen Lebensmitteln. Diese Ernährungsform oder die von US-Forschern entwickelte «Mind-Diät», die viele Elemente der mediterranen Küche übernimmt, können sehr positive Einflüsse auf die Gehirnfunktionen und zum Teil sogar Demenz vorbeugen, sagt Patricia Chocano. «Eine grosse Harvard-Studie hat gezeigt, dass man mit dieser Ernährungsweise kognitiv bis zu 7,5 Jahre jünger werden kann.»
Auch wie oft und wie viel wir essen, scheint wichtig. In Okinawa gibt es die Ernährungsphilosophie «Hara Hachi Bu», die dafür steht, nur zu essen, bis man zu 80 Prozent satt ist. Auch weniger oft zu essen hat positive Einflüsse, bestätigt Altersforscher Alexander Eggel. In längeren Perioden ohne Nahrungsaufnahme werde in den Zellen nämlich eine Art Recycling-Prozess in Gang gesetzt.
Gemeinsam ist den Bewohnern der Blue Zones auch die tägliche Bewegung, sowie Religion, Spiritualität und soziale Kontakte. Forscherin Chocano bestätigt, wie wichtig soziale Kontakte für ein gesundes Altern sind. «Wir sollten soziale Kontakte in unserem Leben priorisieren. Und uns nicht nur auf strikte Diäten versteifen – sondern auch auf Beziehungen achten. Das wird uns in im Alter helfen».
Wenn wir mit 50 Jahren gute Beziehungen pflegen, sage das besser voraus, wie gesund wir mit 80 sein werden, als unsere Cholesterol-Werte mit 50, zitiert Chocano eine Harvard-Studie.
Lässt sich gutes Altern planen?
Nein, aber man könne die eine oder andere Weiche für diesen Zweck stellen, erklärt Vre Harzenmoser. Sie habe immer dafür gesorgt, von «lieben Menschen» umgeben zu sein. Auch weil ihr Mann schon früh starb; da hätten sie und ihre drei Kinder sich auf die Familie und Freunde verlassen können.
Über Jahre hinweg engagierte sich Vre Harzenmoser als Freiwillige in der Kirchgemeinde und hat dadurch viele Menschen kennengelernt. Aber noch mehr gute Bekannte verdanke sie dem Sport: der Wandergruppe des SAC St. Gallen oder natürlich die Freunde und Freundinnen, die sie bei den Orientierungsläufen traf.
Einziger Wermutstropfen: In ihren 93 Lebensjahren hat sie viele Menschen überlebt, die ihr wichtig waren. Natürlich schmerze der Verlust, aber viel mehr tröste es sie, dass diese Menschen ein Teil ihres Lebens sein durften.