Zum Inhalt springen

Suizidhilfe in der Schweiz Sterben auf Rezept: wie weiter mit Exit und Co.?

Schweizweit steigt die Zahl assistierter Suizide. Diese werden durchgeführt von Vereinen wie Exit. Wenn der Zulauf nicht mehr bewältigt werden kann, drohen dann Qualitätsabstriche bei der Sterbehilfe? Ein Blick in die Niederlande lohnt, wo selbstbestimmtes Sterben Aufgabe des Gesundheitssystems ist.

In den Niederlanden haben sich 2024 fast 10'000 Menschen – das sind 5.8 Prozent aller Sterbefälle – für Suizidhilfe entschieden. Auch meine holländische Mutter Anneke ging diesen Weg. Ihre Krebserkrankung war unheilbar.

So bestimmte sie selbst, wann, wo und wie sie stirbt, nämlich durch aktive Suizidhilfe, ausgeführt von ihrer Hausärztin. In den Niederlanden heisst diese dort gesetzlich geregelte Art der Sterbebegleitung «Euthanasie».

Ihre letzten Tage verbrachte meine Mutter mit uns Angehörigen in einem Hospiz. Sie war schwach, jedoch meist ohne Schmerzen. Ihrer Hausärztin Anneloes Richters gegenüber bekräftigte sie immer wieder ihren Entschluss. So wurden Tag und Uhrzeit für ihr Sterben festgelegt.

Der Blick auf die tickende Uhr war eine Qual.
Autor: Heikko Böhm Angehöriger

Am Morgen ihres Todes bekam meine Mutter einen intravenösen Zugang. Dann haben wir gewartet. Eine unwirkliche Situation. Der Blick auf die tickende Uhr war eine Qual. Meine Mutter hat meist geschlafen.

Als die Ärztin kam, haben wir Familienmitglieder uns von Anneke verabschiedet, natürlich blieben wir an ihrer Seite. Nach der Injektion eines starken Schlafmittels, gefolgt durch ein muskellähmendes Medikament, hörte das Herz meiner Mutter auf zu schlagen. 

Assistierter Suizid in der Schweiz: strafrechtlich nicht eindeutig

Eine «aktive Suizidhilfe», wie sie in den Niederlanden von Ärztinnen und Ärzten durchgeführt wird, ist in der Schweiz verboten. Strafrechtlich entspricht sie einer Tötung. Erlaubt hingegen ist der «assistierte Suizid».

Paul Hoff ist Präsident der Zentralen Ethikkommission der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften, SAMW.  Er erklärt, dass beim assistierten Suizid in der Schweiz die strafrechtliche Grenzziehung tatsächlich «sehr weit gefasst» sei.

Als Beispiel nennt er die Formulierung aus dem Strafgesetzbuch: Nur wer aus selbstsüchtigen Beweggründen jemandem zum Selbstmord Hilfe leistet, beispielsweise durch Beschaffung einer tödlichen Substanz, kann mit einer Freiheitsstrafe von bis zu fünf Jahren oder Geldstrafe bestraft werden. «Selbstsucht», das könne somit sehr viel bedeuten. 

Die ausgeübte Praxis des assistierten Suizids, so Hoff, sei da deutlich restriktiver. Auch, weil die SAMW-Richtlinien engere Grenzen ermöglichen. So sind in diesen Richtlinien überprüfbare Kriterien benannt, die erfüllt sein müssen, damit sich Ärztinnen und Ärzte an der Planung und Durchführung eines assistierten Suizids beteiligen können – aber eben nicht auf Gesetzesstufe.

SAMW-Richtlinien zum assistierten Suizid

Box aufklappen Box zuklappen

Unter diesen Voraussetzungen ist der ärztlich assistierte Suizid laut den Richtlinien der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften ethisch vertretbar:

  1. Urteilsfähigkeit: Der Patient oder die Patientin ist in Bezug auf den assistierten Suizid urteilsfähig.
  2. Autonomer Wille: Der Wunsch ist wohlerwogen und ohne äusseren Druck entstanden sowie dauerhaft.
  3. Schwerwiegendes Leiden: Die Krankheitssymptome und/oder Funktionseinschränkungen des Patienten oder der Patientin sind schwerwiegend.
  4. Erwägung von Alternativen: Medizinisch indizierte therapeutische Optionen sowie andere Hilfs- und Unterstützungsangebote wurden gesucht, mit dem Patienten oder der Patientin abgeklärt und angeboten.

Wichtig: Ethisch nicht vertretbar ist gemäss diesen Richtlinien Suizidhilfe bei Gesunden.

Quelle: SAMW

Fokussiert werde dabei auf die Diagnose eines schwerwiegenden Leidens durch Krankheitssymptome von Patientinnen und Patienten. Und diese seien durch eine medizinische Zweitmeinung zu überprüfen und zu bestätigen. Zudem müssten die Behandlungsoptionen zur Genesung ausgeschöpft sein und der Sterbewille freiwillig und andauernd geäussert werden.

Assistierter Suizid nicht den Sterbehilfevereinen überlassen

Sterbehilfevereine wie Exit orientieren sich an den Richtlinien des SAMW. Bei der Beurteilung, inwiefern assistierter Suizid geleistet werden kann, wird jedoch vor allem dem Grundrecht, das eigene Leben beenden zu dürfen, besondere Bedeutung zugemessen.

In der Schweizer Bevölkerung ist dieses Modell des selbstbestimmten Sterbens, wie es von Vereinen wie Exit praktiziert wird, breit akzeptiert.

Doch es gibt kritische Stimmen. Dazu gehört zum Beispiel Uwe Güth. Der Arzt und Autor schätzt, dass zukünftig in der Schweiz rund fünf Prozent der Sterbefälle auf assistierten Suizid beruhen. Das wären etwa 3500 Verstorbene jährlich.

Ein solcher Anstieg sei von den Schweizer Sterbehilfevereinen nicht zu bewältigen. Die Folge: Wartelisten und ein Qualitätsverlust bei der Begleitung von Menschen, die sich assistierte Suizidhilfe überlegen oder in Anspruch nehmen.

So was wie die Sterbekapsel Sarco ist nur in der Schweiz möglich.
Autor: Uwe Güth Arzt und Autor

Auch die für ihn unzureichende gesetzliche Regelung der Suizidhilfe in der Schweiz bemängelt Uwe Güth. So hätten Länder wie die Niederlande nicht nur die Suizidhilfe – in dem Fall aktive Suizidhilfe – gesetzlich erlaubt, sondern auch deren Anwendungen klar geregelt, nämlich als Aufgabe des Gesundheitssystems.

Dass die Sterbekapsel Sarco ausgerechnet in der Schweiz getestet wurde, sei somit kein Zufall: «Es handelt sich um das einzige Land, wo Sterbehilfe erlaubt ist, es jedoch Leute gibt, die sagen, ‹spezifische Regeln dazu brauchen wir nicht›.» Geschäftemacherei und Missstände seien so vorprogrammiert.

Assistierter Suizid, so Güth, gehöre deshalb nicht in die Zuständigkeit von privaten Sterbehilfevereinen. Der Staat müsse Verantwortung übernehmen und den assistierten Suizid anerkennen als medizinische Intervention, abrechenbar als krankenkassenpflichtige Leistung. Deswegen lohne sich auch der Blick in die Niederlande.

Die Niederlande: aktive Suizidhilfe auf Kosten der Krankenkasse 

Anders als in der Schweiz ist die Suizidhilfe in den Niederlanden als gängige Praxis gesetzlich eng reguliert und ein krankenkassenpflichtiger Teil des Gesundheitssystems. Zudem ist es nur Medizinerinnen und Medizinern erlaubt, aktive Sterbehilfe zu leisten.

Die Hausärztin Anneloes Richters, die meiner Mutter beim Sterben half, erklärt: «Ich bin von der Diagnose, über die Abwägung, inwiefern ein Suizid medizinisch und gesetzlich vertretbar ist, bis hin zum Setzen der tödlichen Injektion involviert.»

Die Ärztin schätzt es deshalb sehr, dass das Gesundheitssystem in den Niederlanden Patientinnen und Patienten einer festen Hausarztpraxis zuordnet: «Über die Jahre hinweg lerne ich die Menschen kennen. Das hilft, wenn ich entscheiden muss, ob jemand für aktive Suizidhilfe infrage kommt.»

Die gesetzlichen Vorgaben in den Niederlanden decken sich dabei teilweise mit den empfohlenen SAMW-Richtlinien, die auch Schweizer Sterbehilfevereinen zur Orientierung dienen.    

Das Vorhandensein «unerträglichen» Leids ist dabei ein wichtiger Faktor in den Niederlanden. Hierzu meint Anneloes Richters: «Leid hat viele Facetten: Eine Person kann unter der Aussichtslosigkeit ihrer Krankheit leiden. Oder Angst davor haben, ihre Autonomie zu verlieren. Auch das betrachte ich als unerträgliches Leid.»

Jede Suizidhilfe, die ich leiste, ist schwierig. Ich habe dann schlaflose Nächte.
Autor: Anneloes Richters Ärztin in den Niederlanden

Als Ärztin ist Anneloes Richters nicht zu aktiver Suizidhilfe verpflichtet. Abgelehnt hat sie noch nie. Wenn es so weit sei, sehe sie meist eine enorme Erleichterung in den Gesichtern der Menschen, denen sie helfe: «Das darf man nicht falsch verstehen. Jede Suizidhilfe, die ich leiste, ist schwierig. Ich habe dann schlaflose Nächte.»

Exit und Co. unter Druck?

Der assistierte Suizid aus Vereinshand funktioniere, das Schweizer Modell bewähre sich. Dieser Meinung ist Paul-David Borter, Gesamtleiter Freitodbegleitung bei Exit.

Die Bedenken von Uwe Güth, dass die Sterbehilfevereine nur unter qualitativen Abstrichen die steigenden Anfragen nach assistiertem Suizid bewältigen könnten, teilt er nicht. Die Zahl von fünf Prozent klinge bedrohlich, aber auch übertrieben. Und ob drei oder fünf Prozent – strukturell habe sich Exit in den letzten Jahren so angepasst, dass weiteres Wachstum geschultert werden könne.

Zumindest Exit werde weiter nach strengen, selbstauferlegten Kriterien und Qualitätsstandards arbeiten. Nicht zu vergessen: nach jeder Suizidbegleitung, die Exit durchführe, folge eine behördliche Abklärung.

Die fünf Forderungen von Exit

Box aufklappen Box zuklappen

Exit hat fünf Forderungen formuliert, die an Gesundheitspolitik und ärztliche Fachgremien gerichtet sind:

  1. Weiterhin keine Spezialgesetzgebung hinsichtlich assistiertem Suizid.
  2. Rechtliche Sonderkategorie «Aussergewöhnlicher Todesfall» für den assistierten Suizid schaffen.
  3. Neben Psychiaterinnen und Psychiatern sind auch forensische Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten zur Prüfung der Urteilsfähigkeit bei Demenz und psychischer Krankheit geeignet und daher dafür zuzulassen.
  4. Die SAMW-Richtlinien sollen explizit auf das Vorgehen beim assistierten Suizid in Zusammenarbeit mit Sterbehilfeorganisationen eingehen.
  5. Assistierter Suizid soll schweizweit in allen Gesundheitsinstitutionen, also in Alters- und Pflegeheimen und Spitälern, zugelassen werden.

 Quelle: Exit

Zudem gebe es keine Wartelisten, aber «Wartefristen». Davon betroffen seien Nicht-Mitglieder mit dem akuten Wunsch für eine Sterbebegleitung. Diese müssten sich mit einer höheren Summe einkaufen, sonst sei das unfair den Mitgliedern gegenüber, die seit Jahren Beiträge zahlten.

Vorbild Niederlande?

Lässt sich von den Niederlanden, wo Ärztinnen und Ärzte aktive Suizidhilfe leisten, etwas lernen? Der Vergleich sei schwierig, glaubt Paul-David Borter. Diese Art der Suizidhilfe sei in der Schweiz ja verboten. Und dass Laien bei Exit statt einer medizinischen Fachperson assistierten Suizid leisten, sei kein Problem: «In der Phase geht es um existenzielle, philosophische, oft auch theologische Lebensfragen. Da kann eine mitmenschliche Begleitung gefragter sein als eine medizinische Betreuung.»

Wir wollen ja alle dasselbe: würdevolles, selbstbestimmtes Sterben möglich machen.
Autor: Uwe Güth

Uwe Güth betont: «Exit macht einen tollen Job. Trotzdem bevorzuge ich das niederländische Modell, wenn auch als assistierte und nicht aktive Suizidhilfe.» Sterbehilfe als Teil des Gesundheitssystems sei gesetzlich reguliert, garantiere Qualität und finanzielle Transparenz. Aber es sei wichtig, die Diskussion am Laufen zu halten. Und letztendlich gehe es ihm und Exit ja um dasselbe: «Wir wollen würdevolles, selbstbestimmtes Sterben möglich machen.»

Hilfsangebote in suizidalen Krisen

Box aufklappen Box zuklappen

SRF 1, Puls, 19.5.2025, 21:05 Uhr;brus

Meistgelesene Artikel