Monika Eicher ist oft wütend. Dabei strahlt die 45-jährige Mutter aus der Nähe von Thun eigentlich Ruhe aus. Während sie in ihrem Cocktail auf der Hotelterrasse in Palma de Mallorca rührt, erzählt sie von der ermüdenden Suche nach einem Psychiater für ihren Sohn: Der 16-Jährige verbarrikadierte sich im Zimmer, bekam Panikattacken, wenn ihn die Eltern dazu aufforderten, zur Arbeit bei der Lehrstelle zu gehen.
Klar ist, dass ihr Sohn ein Aufmerksamkeitsdefizit-Syndrom hat. Vermutet wurden zudem eine Autismus-Spektrum-Störung und eine Depression. Insgesamt: Der blanke Horror für den jungen Menschen – und seine Eltern, die sich hilflos und überfordert fühlen.
Was die Familie schon monatelang gebraucht hätte: eine Diagnose und Medikamente für den Sohn. Oder anders formuliert: einen Psychiater. Doch das Warten auf einen Therapieplatz in der Schweiz kann Monate dauern, in der Kinder- und Jugendpsychiatrie sogar bis zu eineinhalb Jahren.
Therapie auf der Insel als Ausweg
Nun ist Monika Eicher auf Mallorca und zieht eine Behandlung hier in Betracht. Obwohl sie sich Hilfe in der Schweiz wünscht, ist sie verzweifelt genug, um nach Alternativen zu suchen.
Auf der Baleareninsel leben viele deutschsprachige Fachpersonen mit Ausbildungen in Deutschland, Österreich oder der Schweiz. Manche bieten sogar All-inclusive-Pakete an: Wohnen und essen auf der Finca, dazu täglich Therapie und Coaching plus Yoga-, Mal- und Reittherapie. Das Meer für Badeausflüge ist nicht weit weg oder wer lieber wandert, der findet sein Paradies im Hinterland.
Auch für Familien gibt es Angebote. Das weiss Monika Eicher. Sie hat sich etwas informiert auf der Insel und ist persönlichen Tipps nachgegangen.
Ferien mit Therapie oder Therapie mit Ferien?
Die deutsche Psychologin Coletta Damm bietet seit 18 Jahren «Therapie mit Ferien» an, auf der Finca Vida Libre im Osten der Insel. Ihre Adresse sucht man auf der Website vergeblich. Diskretion ist wichtig in diesem Geschäft.
Die meisten Patienten und Patientinnen geben zuhause an, nach Mallorca in die Ferien zu fliegen. Tatsächlich aber nehmen sie sich eine Auszeit, um ein psychisches Problem anzugehen. Häufige Themen in der Finca Vida Libre: Alkoholsucht und Burnout.
Das Konzept ist einfach: Wohnen, essen und therapiert werden auf der Finca. Eigentlich wie bei einem stationären Aufenthalt – nur intensiver und mit Ferienambiente.
Therapiegespräche finden täglich in der Finca statt. Und weil die Betroffenen nicht arbeiten oder dem Alltag nachgehen müssen, haben sie anschliessend genügend Muse, sich in aller Ruhe und in einer schönen Umgebung mit sich selbst zu beschäftigen. Oder mit den anderen Finca-Bewohnerinnen, die auch an einem psychischen Problem arbeiten, einen Ausflug zu machen.
Das Team um Coletta Damm bilden eine Ärztin, eine Krankenschwester und weitere Fachpersonen wie Yogalehrerinnen oder Reittherapeuten. Kostenpunkt: circa 3000 Euro die Woche, Psychotherapie all-inclusive.
Monika Eicher hat sich die Finca Vida Libre angesehen und zieht einen Aufenthalt dort in Betracht – nicht für ihren Sohn, sondern für sich selbst. Die schwierige Situation um die fehlende Versorgung ihres Sohnes nagt auch an ihrer Gesundheit. Sie und auch ihr Mann mussten vorübergehend krankgeschrieben werden.
Die Eltern selbst reagieren mit psychischen Problemen – zum Beispiel mit einer Anpassungsstörung – auf die schwere Belastung, die sie daheim mit ihrem erkrankten Kind haben.
Kein Einzelfall, bestätigt Inga Köster, Psychotherapeutin in einer Gemeinschaftspraxis in Interlaken: «Die Eltern selbst reagieren mit psychischen Problemen – zum Beispiel mit einer Anpassungsstörung – auf die schwere Belastung, die sie daheim mit ihrem erkrankten Kind haben.»
«Für meinen Sohn müsste ich noch mehr zu den einzelnen Angeboten wissen», sagt Monika Eicher, «ich habe da einige Tipps bekommen. Ich kann mir schon vorstellen, als Überbrückung einfach mal abzuhauen und hier als Familie auf eine Finca zu gehen, in der Hoffnung, dass es uns alle weiterbringt.»
Versorgungskrise in der Schweiz
Was Monika Eicher und ihre Familie erleben, ist durch Zahlen belegt: 2021 wurde geschätzt, dass 27 Prozent der Schweizer Bevölkerung ein psychisches Problem hatten. Laut der Föderation Schweizer Psychologinnen und Psychologen (FSP) bekam lediglich ein Drittel die nötige Hilfe. Andere Umfragen kommen auf ähnliche Zahlen.
Klar ist: Die Versorgung in der Schweiz ist ungenügend. Das ist für viele Betroffene eine Notlage. Schliesslich haben psychische Erkrankungen grosse Auswirkungen auf den Alltag und damit auch auf die Arbeitsfähigkeit. Die Betroffenen brauchen schnell Hilfe, nicht in einem halben Jahr. Zudem kann sich eine psychische Erkrankung chronifizieren, wenn sie nicht zeitnah behandelt wird.
Auch für die Fachpersonen ist die Situation in der Schweiz bedrückend. Thomas Köster, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, empfindet die Situation gar als Katastrophe. Das Ehepaar Thomas und Inga Köster, die einer Gemeinschaftspraxis in Interlaken tätig sind, sind sich bewusst, dass hinter jedem angewiesenen Patienten ein Schicksal steht, das durch die Abweisung vielleicht einen noch schlechteren Weg einschlägt.
Psychotherapeutin Inga Köster erzählt, dass eine Familie drei Stunden Anfahrtszeit nach Interlaken in Kauf nimmt, um ihr Kind in die Therapie zu bringen. Sie reisen mit dem Camper an und übernachten einmal vor Ort. «Früher haben wir ein normales Einzugsgebiet gehabt», ergänzt sie, «und das hat sich extrem vergrössert.»
Anonyme Intensivtherapie unter Palmen
Ein weiterer Grund, warum Menschen mit psychischen Problemen nach Mallorca kommen, um sich hier behandeln zu lassen, ist die gewünschte Anonymität. Psychische Probleme sind nach wie vor ein Stigma – vor allem, wenn es sich um Süchte handelt. Man findet darum einige Institutionen auf Mallorca, die sich auch dem Entzug widmen.
Mallorca war meine Rettung. Ich hätte mich umgebracht, hätte ich dort das Steuer nicht rumgerissen. Ich war schon den Bahngleisen entlang spazieren gegangen und hatte meine Fantasien dabei.
Nadja aus der Schweiz (ihr richtiger Name ist der Redaktion bekannt) war zwei Mal zwei Wochen auf Mallorca, um ihr Alkoholproblem in den Griff zu bekommen. Ihr Fazit: «Mallorca war meine Rettung. Ich hätte mich umgebracht, hätte ich dort das Steuer nicht rumgerissen. Ich war schon den Bahngleisen entlang spazieren gegangen und hatte meine Fantasien dabei. Zum Glück ist es nicht so weit gekommen.»
Für Nadja spielt die Anonymität auf der Ferieninsel eine grosse Rolle. Zu gross war die Angst, beim Entzug in einer Klinik registriert oder erkannt zu werden. Die Therapie auf der Finca habe zudem etwas Familiäres. Man arbeite intensiv an sich und sei in ein wohliges Zuhause eingebettet. Insbesondere die Therapie mit Pferden hätte ihr geholfen, sich wieder zu spüren, einen Zugang zu sich und den grundliegenden Problemen ihrer Sucht zu finden.
Nach zwei Aufenthalten an je zwei Wochen gelang es Nadja, die Strategien umzusetzen, die sie auf der Finca gelernt hatte. Seit sieben Jahren nun trinkt sie keinen Tropfen Alkohol mehr.
Coletta Damm bestätigt, dass es bei der Alkoholsucht um eine Bewusstseinsveränderung geht. Und dass diese auch in zwei Wochen erreicht werden kann: «Es geht darum zu realisieren, ich habe da ein Problem und ich möchte es loswerden. Ich möchte frei und zufrieden leben können, ohne Alkohol. Zuerst braucht es diesen Entscheid und dann den Mut zum Leben ohne Alkohol.»
Mallorca als Reset und Start in die richtige Richtung
Ein paar Wochen Intensivtherapie mit Urlaub – und schon ist alles in Ordnung? So einfach ist es nicht. Wer wieder Zuhause ist, muss die Probleme im Alltag handeln. Ohne tägliche Unterstützung, Liegestuhl und Spaziergänge am Meer.
Dessen sind sich die Anbieter bewusst. Sie betreuen ihre Schützlinge im Anschluss online weiter. Oder sie vermitteln Therapeuten aus dem Netzwerk, das sie in anderen Ländern aufgebaut haben. So zumindest macht es die Luxusklinik The Balance. Ihr CEO und Gründer ist der Schweizer Abdullah Boulad.
Die Klinik auf Mallorca ist eine Erweiterung zu den Kliniken in Zürich und London. Sie bieten Luxusaufenthalte und Behandlungen für jegliche psychische Erkrankungen von Burnout, über Depression bis zu Traumata und Suchtproblemen an. Die Therapie wird dabei individuell zusammengestellt.
Boulad empfiehlt sechs bis acht Wochen Aufenthalt, um einen Reset zu schaffen. Auch er betont, dass ein neues Verhaltensmuster implementiert werden soll, weg von Zuhause, weg von den Trigger-Faktoren, dafür mitten im Wohlfühlparadies.
Ein Unternehmer aus Norddeutschland und ehemaliger Klient, der wegen seiner Kokainsucht mehrere Wochen in The Balance war, bestätigt am Telefon, dass das Konzept für ihn funktioniert hat: Die Auszeit auf Mallorca war Starthilfe für einen Weg, der auch noch nach fast zwei Jahren nachhaltig ist. Noch heute habe er Kontakt zu einigen seiner damaligen Villa-Mitbewohnern, die sich ebenfalls therapieren liessen.
Man muss es sich leisten können
Die Krankenkasse zahlt nichts an die Behandlung in der Luxusklinik. Und auch an keine anderen Behandlungen auf Mallorca – selbst wenn es für viele Betroffene aus der Schweiz die einzige zeitnahe Lösung ist, die eine Chronifizierung verhindert.
Natürlich gibt es auf Mallorca auch Therapeuten ohne Finca, Pool oder Prominenz. Vanessa Gleede zum Beispiel ist seit 20 Jahren Psychotherapeutin in Palma de Mallorca, mit Ausbildung in Deutschland. Häufige Themen bei ihr: Depressionen, Angstzustände und Eheprobleme.
Sie hat lokale Kundschaft, häufig internationale Paare, die auf Mallorca leben, aber auch Schweizer und Schweizerinnen, die auf Mallorca Ferien machen. Diese suchen sich selbst eine Unterkunft und kommen dann zu ihr in die Praxis, für 80 Euro pro Stunde. Das ist deutlich günstiger als in der Schweiz, wo man als Selbstzahlerin zwei bis drei Mal mehr berappt. Gleede ist überzeugt, dass auch nur eine Woche mit täglicher Therapie viel bringt.
Auch Thomas und Inga Köster, Therapeuten mit Gemeinschaftspraxis in Interlaken, wünschen sich eine bessere Versorgung in der Schweiz, sehen die Psychotherapie auf Mallorca aber als Notlösung, wenn die Behandlung rasch beginnen kann. Wichtig sei die Organisation der Nachbehandlung.
Vorsicht ist auch bei Medikamenten geboten: Präparate in Spanien können sich von denen in der Schweiz unterscheiden. Eine Abstimmung mit dem Folgetherapeuten ist essenziell. Psychopharmaka müssen auch oft über längere Zeit eingestellt werden, ein Kurzaufenthalt auf Mallorca könnte dafür nicht ausreichen.
Auch sei bei einer Diagnose zu prüfen, ob diese gemäss den Schweizer Leitlinien erfolgte, wobei die Schweizer Leitlinien meist den europäischen entsprechen. Inga Köster sieht auch eine gute Möglichkeit für Familien, zusammen eine Auszeit zu nehmen, um sich zum Beispiel der Autismus-Spektrum-Störung des Kindes vollkommen zu widmen.
Zur Behandlung im Ausland geeignet sind im Grundsatz alle Erkrankungen, die auch in der Schweiz ambulant behandelbar sind. Schwer kranke Menschen sind eher ungeeignet für eine Intensivtherapie auf Mallorca, nur schon wegen der Reiseunfähigkeit. Auch sollten beim ersten Gespräch vorherige Klinikaufenthalte angegeben werden. Die Fachpersonen auf Mallorca müssen realistisch einschätzen können, wen sie aufnehmen können und wen nicht.
Klar ist: Eine Psychotherapie auf Mallorca ist eine Notlösung, ein Übergang bis in der Schweiz ein passender Therapieplatz gefunden wird. Oder wie es Monika Eicher formuliert: «Wenn einem in der Schweiz nicht geholfen wird – dort, wo man es eigentlich brauchte – dann fängt man halt an, weiter zu studieren.»