Europaallee Zürich. Hier treffen sich täglich Tausende Smartphone-Zombies und Bildschirm-Junkies. Stehen mit gesenktem Kopf herum und lesen Onlineartikel. Checken den Fahrplan oder zählen die Likes auf Social Media. Laufen das Handy vor Augen in Richtung Stadt oder Hauptbahnhof und schaffen es auf wundersame Weise, nicht ständig zusammenzustossen.
Immer weniger reale Treffen
Mittendrin: Anna Miller. Die Journalistin und Autorin prangert den digitalen Dauerkonsum an und hat es sich zur Mission gemacht, die Öffentlichkeit für einen bewussteren Umgang mit den allgegenwärtigen Kommunikationsmitteln zu sensibilisieren.
Das Geschehen auf der Europaallee betrachtet sie kopfschüttelnd: «Eigentlich ist das ein öffentlicher Ort, wo man sich treffen kann. Wo sich auch Fremde begegnen könnten.» Stattdessen laufe man aneinander vorbei.
Der Platz zeige die aktuelle Problematik der Digitalisierung exemplarisch auf: «Wir sind zwar ständig mit anderen digital vernetzt, aber immer weniger verbunden mit uns selbst und den realen Menschen um uns herum.»
Anna Miller hat im In- und Ausland bereits viel zu diesem Thema publiziert. Sie schreibt Ratgeber, ist aktiv in den sozialen Medien und nutzt die digitalen Kanäle rege für die Verbreitung ihrer Botschaften.
Zeitfresser Handy
Den Nutzen dieser Plattformen kennt die Journalistin also durchaus. Dennoch ist sie skeptisch: «Viele Menschen verbringen mit diesen Angeboten viel mehr Zeit, als sie eigentlich wollen. Mit Konsequenzen für das echte Leben.»
Alle schauen nur noch auf ihren Bildschirm.
Was hat die Europaallee dazu zu sagen? Auf die eigene Bildschirmzeit angesprochen, rufen Passanten «zu viel!» Und laufen aufs Handy starrend weiter. Eine Frau kommt ins Grübeln und schaut nach: «Sechs Stunden!» Stirnrunzeln. Verlegenes Lächeln. Ein Mann schätzt seine tägliche Bildschirmzeit auf zwei bis drei Stunden und bedauert, dass im öffentlichen Verkehr niemand mehr miteinander redet: «Alle schauen nur noch auf ihren Bildschirm.»
Der Eindruck täuscht nicht. Gerade bei Jugendlichen hat die Handynutzung in den letzten zehn Jahren deutlich zugenommen. Laut regelmässig erhobenen Zahlen der Zürcher Hochschule für angewandte Wissenschaften ZHAW lag die durchschnittliche Bildschirmzeit 2020 bei fast vier Stunden pro Tag.
Heute nutzen 99 Prozent der Jugendlichen ein Handy. Also eigentlich alle. Im Internet verkehren 98 Prozent. Immerhin noch 93 Prozent streamen Musik und ganze 92 Prozent sind auf den sozialen Medien aktiv.
Offline ist fast niemand mehr
Szenenwechsel. Ein Tisch im belebten Café des Kulturzentrums Kosmos, mitten im Zürcher Ausgangsviertel rund um die Langstrasse. Neben der Getränkekarte liegt ein kleiner weisser Zettel mit der Aufschrift: «Schau mir in die Augen, Baby… und nicht in den Screen. Hier ist computerfreie Zone. Danke».
Eine Ansage ganz nach Anna Millers Geschmack: «Es braucht mehr solche Räume wie diesen.» Denn das grösste Problem sei die ständige Gleichzeitigkeit von allem. «Beim Essen noch den Laptop offen haben oder während des Gesprächs mit dem Gegenüber immer wieder schnell das Handy checken.» Nicht einmal auf einer gemeinsamen Wanderung bleibt der Kopf offline: kein Panorama ohne Insta-Post.
Anna Miller ruft unermüdlich zur Reduktion der Bildschirmzeit auf und warnt in ihren Texten mit deutlichen Worten vor den Folgen des digitalen Dauerkonsums: Der Bildschirm mache uns vergesslicher, trauriger, rastloser, schlafloser, lustloser, gereizter, wütender, krank.
Digitale Balance suchen
Kritik an diesen Aussagen und Alarmismus-Vorwürfe nimmt sie gelassen hin. Sie steht zu ihrer Überzeugung: «Wenn man sich 24/7 dem ganzen Internet aussetzt, löst das über die Jahre eine Veränderung aus. Es verändert, wie wir auf Menschen zugehen und wie stark wir uns noch auf etwas Bestimmtes fokussieren können.»
Es sei eben eine Frage des Masses: «Es ist, als würde man sich 20 Jahre lang nur von Fast Food ernähren. Deswegen stirbt man nicht gleich. Aber es ist sicher besser, über gesunde Ernährung Bescheid zu wissen und nur ab und zu einen Burger zu essen.» So verhält es sich auch mit der Bildschirmzeit, ist Anna Miller überzeugt. «Schlussendlich geht es um eine digitale Balance.»
Bewusst auf die digitalen Verlockungen verzichten. Leichter gesagt als getan – selbst für Aktivistin Anna Miller. Für die Dreharbeiten mit dem Gesundheitsmagazin «Puls» hat sie ihr Handy nicht einmal aus dem Flugmodus genommen.
«Das war ein Willensakt und hat durchaus Überwindung gekostet», gibt sie zu. «Aber wenn wir schon stundenlang gemeinsam unterwegs sind, möchte ich mich der Sache auch voll widmen.» Da reiche blosses Stummschalten nicht.
Natur als Gegensatz
Letzte Station: der Käferberg am Stadtrand von Zürich. Dicker Nebel liegt über der Stadt, eisige Kälte auf den Schrebergärten. Hierhin zieht es Anna Miller immer wieder. Zum Wald, zum Ausblick über die Dächer Zürichs. «Ich bin gerne in der Natur. Weil ich sehr urban lebe und beim Schreiben oft vor dem Bildschirm sitze, tut mir die ‹analoge› Umgebung gut.»
An solch stillen Orten bietet sie auch Coachings für überdigitalisierte Menschen an, damit sie «offline» über ihren Medienkonsum nachdenken können.
In die Natur gehen, um den Digitalkonsum besser in den Griff zu bekommen? Klingt banal, aber Anna Miller glaubt, dass es hilft, um wieder selbstbestimmter mit der eigenen Zeit umzugehen. «Wir sind es derart gewöhnt, für alles klare Vorgaben zu bekommen: Das hat eine Stunde zu dauern, das zwei, jenes drei...» Für Anna Miller ein zentrales Problem der Digitalisierung.
«Wir müssen neu lernen, in uns selbst hineinzufühlen. Um beispielsweise zu merken, wie es uns nach einer halben Stunde am Handy geht. Bin ich müder als vorher? Aufgeregter? Bin ich vielleicht zufriedener oder sogar glücklicher? Was genau hat das jetzt ausgelöst?»
Das Ziel: ein bewussterer Umgang mit der eigenen Bildschirmzeit. Eine bessere digitale Balance. Wenn Selbstreflexion nicht zu den eigenen Stärken zählt, kann das auch auf anderen Wegen erreicht werden. Beispielsweise mit den Tipps in der untenstehenden Servicebox.
Der Abend bricht an, es wird dunkel auf dem Käferberg. Anna Miller schaut zur Stadt hinüber, wo sich die Smartphone-Zombies und Bildschirmjunkies langsam auf den Heimweg machen. Schaffen wir das mit der digitalen Balance? «Wahrscheinlich wird es erst noch etwas schlimmer», meint Anna Miller.
Aber sie hat Hoffnung, dass sich nun etwas ändert. «Es war ein paar Jahre lang lustig für alle, aber jetzt ist der Moment gekommen, dass wir uns wieder bewusst werden, wie wertvoll unser Leben und unser Zusammensein ist.» Denn schliesslich wollen doch die meisten in einer Gesellschaft leben, in der man sich begegnet – und nicht global vernetzt vereinsamen.