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Ultramarathon und -triathlon Für dieses körperliche Durcheinander sorgt Extremsport

Intensive Dauerbelastungen ziehen längst nicht nur unsere Muskulatur in Mitleidenschaft. Nieren, Leber, Verdauung und Immunsystem stehen auf dem Prüfstand.

Erhöhte Leberwerte, eine akute Entzündungsreaktion und ein Blutbild, das auf einen Herzinfarkt schliessen lässt. Wettkämpfe, die über den Marathon oder die Triathlon-Langdistanz hinausgehen, sorgen für ein gehöriges Durcheinander. Dass diese sogenannten Ultraläufe- und -triathlons den Bewegungsapparat beanspruchen, ist naheliegend. «Aber damit ist längst nicht Schluss», so Beat Knechtle. Er spricht aus eigener Erfahrung als Ultraathlet, Mediziner und Wissenschaftler der Universität Zürich. 2018 veröffentlichte er einen Überblick über die Forschungserkenntnisse zum Ultramarathonlaufen in der Fachzeitschrift Frontiers in Physiology .

Beat Knechtle

Allgemeinmediziner und Ausdauerathlet

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Der 59-jährige Appenzeller hat bereits über 300 Ironman-Strecken, 57 Ultramarathons und mehr als 400 Marathons in den Beinen. Ab diesem Mittwoch, 23. August, will er zum vierten Mal den Deca Ultratriathlon der Variante «one per day» im St. Galler Rheintal bestreiten: täglich 3.8 Kilometer Schwimmen, 180 Kilometer Radfahren und 42.2 Kilometer Laufen. Und das während insgesamt zehn aufeinanderfolgenden Tagen. Der Allgemeinmediziner Beat Knechtle kennt sich damit aus, was im «Wettkampfmodus» in unserem Körper vor sich geht – nicht nur aus seiner Erfahrung als Athlet, sondern auch dank seiner Forschungstätigkeit an der Universität Zürich.

Unter Dauerbelastung findet im Körper eine Umverteilung statt: Die knappen Energiereserven versorgen primär die Muskulatur. Für den Wettkampf ist das sinnvoll. Nur müssen im Gegenzug andere Organsysteme, wie etwa der Verdauungstrakt, kürzertreten. So erklärt die mangelnde Durchblutung der Darmschleimhäute den häufig auftretenden Durchfall. Dieser ist nur einer der vielen Verdauungsprobleme, über welche laut Knechtle rund vier von fünf Ultraläuferinnen und -läufer klagen. Allen voran die Übelkeit, einer der häufigsten Gründe, ein Rennen abzubrechen.

Auf Herz und Nieren geprüft

Die Liste veränderter Laborwerte ist lang. Einen Hinweis auf direkte Organschäden liefern etwa erhöhte Leberwerte – oder der Anstieg des C-reaktiven Proteins (CRP), ein Indiz für Entzündungen, Infektionen und Gewebeschäden. So berichtet Knechtle über einen 90-km-Ultralauf, bei dem CRP-Werte beobachtet wurden, wie man sie vom Herzinfarkt kennt.

Disqualifiziert – wegen Gewichtsverlusts

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Eine der grössten Herausforderungen während des Wettkampfs ist die Flüssigkeitsaufnahme. Wer zu wenig Wasser trinkt, riskiert zu dehydrieren. Wer zu viel trinkt, riskiert eine «Überladung» mit Flüssigkeit – also einen Wasserüberschuss, den die Nieren nicht verarbeiten können. Folglich gerät der Salzhaushalt des Körpers durcheinander: Das Blut verdünnt sich; es kommt zur Hyponatriämie, also einem verminderten Natriumgehalt im Blut. Die Konsequenz: Zunächst wird man träge und verwirrt. Muskelzittern, Krampfanfälle und Bewusstseinsstörungen können folgen. In schweren Fällen kann es zum Atemstillstand und damit auch zum Tod kommen.

Dem Allgemeinmediziner und Ausdauerathlet Beat Knechtle fällt auf, dass in den USA besonders viele Fälle von Hyponatriämie auftreten: Während es beim «Western States Endurance Run» in Kalifornien etwa 30 Prozent betrifft, sind es bei den Ultramarathons in der Schweiz höchstens acht Prozent. Diesen Unterschied erklärt sich Knechtle neben den Wetterbedingungen dadurch, dass in den USA das Trinken stark gefördert wird. So wird bei zu hohem Gewichtsverlust während des Laufs sogar disqualifiziert: Knechtle erzählt von Läufen, bei denen Athleten dazu aufgefordert werden, sich zu wiegen. Wer im Vergleich zum Gewicht vor Rennstart bereits mehr als 7 Prozent verloren hat, darf nicht weiterlaufen.

Die Praktik aus den USA kritisiert Knechtle als «wenig sinnvoll». Er anerkennt die deutliche Gewichtsabnahme während des Laufs zwar tatsächlich als Risikofaktor für Nierenschäden. Gleichzeitig müsse ein 70 kg schwerer Läufer bei einem Ultramarathon zwischen zwei und fünf Prozent seiner Körpermasse verlieren, um den Wasserhaushalt überhaupt aufrechtzuerhalten. Knechtle argumentiert, dass ein Gewichtsverlust während des Laufs ergogen wirke, also die Leistung verbessert. Bestätigen konnte er das am 100-km-Lauf in Biel, wo er mehr als 200 Läufer auf Gewichtsveränderungen und Leistung untersuchte.

«Schäden machen bei der Muskulatur nicht halt», stellt Knechtle klar. Bei Muskelschäden strömen Proteine, darunter Myoglobine, aus dem Muskel in den Blutkreislauf. Kommt noch Hitze oder eine Dehydration dazu, reichern sich diese Proteine in der Niere an. Die Folge: eine Nierenschädigung. Sie treffe fast die Hälfte der Ultraläuferinnen und -läufer. «Solche Schäden sind aber in aller Regel reversibel: Die Organe erholen sich innert zwei bis drei Tagen», schätzt Knechtle ein. Fälle schwerwiegender Organschäden wie einer dialysepflichtigen Niereninsuffizienz oder eines Leberversagens seien zwar bekannt, aber eine Seltenheit.

Der Wettkampf geht zu Ende – seine Auswirkungen nicht

Das Immunsystem läuft noch bis zu zwei Wochen nach Rennen auf Sparflamme. Laut Knechtles Übersicht erleiden nach einem Ultramarathon 25 bis 30 Prozent einen Infekt der oberen Atemwege. Die Erklärung dafür liefert das «Open-Window-Phänomen»: Während der Belastungsphase steigen Hormone, die das Immunsystem regulieren, an. Geht der Körper in Erholung, können diese schnell wieder abfallen und sogar unter das Ausgangsniveau sinken. Die Wahrscheinlichkeit für eine Erkältung oder einen anderen Infekt steigt.

«Ein Ultralauf ist sicher nicht gesund», gesteht Knechtle ein. Regelmässiges Ausdauertraining schon. Als Hausarzt ist Knechtle täglich mit der Lebensweise der anderen Extreme, jener ohne sportliche Aktivität, konfrontiert: «Viele haben bereits mit 50 Gesundheitsprobleme. Allein das Erreichen des 70. Lebensjahr ist da ein Meilenstein.» In diesem Alter würden Knechtles Kollegen noch Wettkämpfe bestreiten. Generalisieren möchte er dennoch nicht. Schliesslich mache Sport die genetische Veranlagung für Krankheiten auch nicht wett.

Radio SRF1 Sport, 18:45 Uhr, 17.08.2023

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