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Das künstliche Hüftgelenk: Eine Schweizer Pionierleistung
Aus Treffpunkt vom 28.02.2024. Bild: KEYSTONE_ Photopress- Archiv
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Wer hat's erfunden? Ein Schweizer war Pionier des künstlichen Hüftgelenks

Ein Hüftgelenkersatz gilt heute als Routineeingriff. Das verdanken wir unter anderem einem Schweizer.

Am 31. Dezember 1960 schickt Maurice E. Müller einen Brief nach Bettlach im Solothurnischen: Ob die Firma Mathys mit ihm künstliche Hüftgelenke entwickeln würde? Müller kennt den Apparatebauer Robert Mathys bereits als zuverlässigen Lieferanten von Knochenschrauben und Platten, die dieser im Auftrag des berühmten Orthopäden zum Überbrücken von Knochenbrüchen gefertigt hatte. Nun also ein neues Unterfangen: Hüftimplantate!

Inspiriert von einem englischen Arzt

Am 9. Februar 1961 setzt Müller in St. Gallen einer Patientin die erste selbst entworfene Endoprothese aus rostfreiem Stahl und einer Kunststoffpfanne ein. Es ist das erste Kunstgelenk dieser Art, das auf dem europäischen Festland einer Patientin implantiert wird.

Nachzulesen ist das in einem neuen Buch, das die Pionierleistung Maurice E. Müllers bei der Entwicklung künstlicher Hüftgelenke nachzeichnet.

Buchtipp

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Niklaus Ingold, Peter E. Ochsner, Hubert Steinke (Hg.): Maurice E. Müller und die Entwicklung künstlicher Hüftgelenke in der Schweiz: Zeitzeugenbefragung zur Geschichte einer Medizintechnik. 2023. Das Buch ist im Internet frei auf Bern Open Publishing zugänglich.

Mitherausgeber ist Hubert Steinke, Professor für Medizingeschichte an der Universität Bern und Leiter der Medizinsammlung des Inselspitals. Steinke erzählt, Müller habe sich damals von einem anderen Gelenkersatz-Pionier inspirieren lassen, dem Engländer John Charnley: Dieser hatte im Wrightington Hospital bei Manchester bereits einige solcher Eingriffe durchgeführt – Müller kopierte ihn einfach. «Es war damals in der Ärzteschaft üblich, neue Methoden von anderen zu übernehmen und sie nach eigenem Gutdünken abzuwandeln», so Steinke.

Auf dem Bild ist Hubert Steinke zu sehen.
Legende: Hubert Steinke, Professor für Medizingeschichte an der Universität Bern und Leiter der Medizinsammlung des Inselspitals ist Mitherausgeber des Buches «Maurice E. Müller und die Entwicklung künstlicher Hüftgelenke in der Schweiz». SRF

Der Hüftkopf zum Beispiel war bei der «Müller-Prothese» deutlich grösser als bei Charnley, und anstelle von gebogenen Schäften fertigte Müller bzw. sein Konstrukteur Mathys gerade Schäfte, die in den Oberschenkelknochen eingeführt wurden.

So habe Müller über «trial and error», über Ausprobieren und Verwerfen, mit den Jahren einen «weltweiten Standard mit vielen Varianten» entwickelt, sagt Steinke.

Schillernde Berner Figur

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Maurice E. Müller (1918–2009) gilt als einer der weltweit bedeutendsten Orthopäden der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Er leitet ab Ende 1960 bis 1967 die orthopädisch-traumatologische Abteilung der Chirurgischen Klinik des Kantonsspitals St. Gallen. 1963 nimmt er einen Ruf an die Universität Bern an und wird Direktor der Universitätsklinik für orthopädische Chirurgie am Inselspital. Zunächst parallel zu seinem St. Galler Engagement führt er diese Klinik bis 1980.

Sein internationales Renommee beruht neben der Hüftgelenkprothetik auf der Entwicklung neuer Methoden zur Behandlung von Knochenbrüchen. Schon 1958 hat Müller zusammen mit anderen Schweizer Orthopäden und Chirurgen die Arbeitsgemeinschaft für Osteosynthesefragen (AO) gegründet. 1987 erhält Müller als Vertreter der AO den Marcel-Benoist-Preis, den wichtigsten Wissenschaftspreis der Schweiz.

Mit seinen Entwicklungen im Bereich der Hüftgelenkprothetik trägt er wesentlich zum Aufstieg der Gebrüder Sulzer AG zur zeitweise wichtigsten Orthopädiefirma Europas bei. Über die Fondation Maurice E. Müller fördert er medizinische Forschung, Ausbildung und Evaluation. Gemeinsam mit seiner Frau Martha Müller-Lüthi stiftet er das Zentrum Paul Klee in Bern.

Quelle: Historisches Lexikon der Schweiz

Es sind Schweizer KMUs wie Mathys, Straumann und Synthes oder die Gebrüder Sulzer in Winterthur, die damals für Müller produzieren. Um «seine» Kunstgelenke zu vermarkten, gründet der Orthopäde 1965 eine eigene Vertriebsfirma, die Protek AG. Ob Arzt oder Geschäftsmann oder beides – das ist in dieser Zeit nicht so wichtig. «Zwischen 1960 und 1990 war die Entwicklung der Hüftprothese primär von den Ärzten geleitet», erklärt Hubert Steinke, «denn sie konnten die Bedürfnisse der Patientinnen und Patienten am besten abschätzen.»

Das Geschäft boomt

Ab den späten 1980er-, frühen 1990er-Jahren nehmen Hüft-Operationen und dementsprechend die Produktion von Hüftprothesen exponentiell zu. Nun geht es um serielle Grossproduktion, um grosse Beträge und hohe finanzielle Interessen. «Unter diesen Rahmenbedingungen verloren die Ärzte an Einfluss», so Steinke. Stattdessen beginnen grosse Konzerne, das Geschäft zu dominieren.  

Ein Mann hält einen Regenschirm über eine Frau.
Legende: Maurice E. Mueller, zusammen mit seiner Frau Martha Mueller. Er ist Goenner des Zentrums Paul Klee in Bern. Keystone

Der Rest ist Geschichte: Müller verkauft seine Vertriebsfirma an die Gebrüder Sulzer AG, die in den 1990ern die zeitweise grösste und bedeutendste Orthopädiefirma Europas aufbaut: Sulzer Medica. 2001 aber strauchelt das Unternehmen in den USA über einen Skandal mit schadhaften Hüftprothesen, wenig später wird es an einen US-Konkurrenten verkauft.

Und Maurice E. Müller? Er gewann aus dem Verkauf seiner Protek AG Millionen, wollte diese aber nicht für sich behalten: Aus dem Chirurgen und Geschäftsmann wurde am Schluss ein Mäzen. Er stiftete in Bern das Zentrum Paul Klee und ein Kindermuseum. Weggefährten sagen, es sei ihm nie ums Geld gegangen.

SRF 1, Treffpunkt, 28.02.2024, 10:00 Uhr

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