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Die Krise der Taxonomie Warum viele Arten aussterben, bevor wir sie überhaupt kennen

Alles spricht von Biodiversität und Artensterben. Aber Artenkennerinnen und Artenkenner mit ihrem tiefen Spezialwissen sind selbst eine bedrohte Spezies. Das hat Folgen.

Seraina Klopfsteins Spezialgebiet ist besonders: Sie ist Expertin für Schlupfwespen. In ihrem Büro am Naturhistorischen Museum in Basel zeigt die Kuratorin der Insektensammlung einen Insektenkasten mit Hunderten kleiner schwarzer Schlupfwespen – fein säuberlich aufgespiesst und beschriftet.

Die Kuratorin Seraina Klopfstein zeigt ihren Insektenkasten mit Hunderten kleinen schwarzen Schlupfwespen.
Legende: Die Kuratorin Seraina Klopfstein mit ihrem Insektenkasten mit Hunderten kleiner schwarzer Schlupfwespen. Lisa Schäublin, NMBE

Ob sie die kleinen Tiere ohne Weiteres benennen kann? «Nein», lacht Seraina Klopfstein, «für diese spezielle Gattung von Schlupfwespen gibt es weltweit noch niemanden». Die Gattung sei noch nicht aufgearbeitet, ihre Merkmale noch nicht erfasst, um sie zu beschreiben.

Nur eine Handvoll Menschen ist dazu überhaupt in der Lage, denn es braucht sehr tiefes Wissen. Saraina Klopfstein hat dieses Wissen. Aber damit gehört sie selbst zu einer seltenen Spezies.

Es liegt an der Ausbildung

Die Taxonomie, die systematischen Einordnung von Tieren und Pflanzen, leidet unter einem «Fachkräftemangel». Die Museumskuratorin ist auch Präsidentin der Swiss Systematic Society und damit quasi die oberste Taxonomin der Schweiz, benennt die Gründe: Zum einen die grosse Diversität in der Natur, «alleine an Insekten gibt es vermutlich Millionen von Arten weltweit.»

Zweitens habe diese Grundlagenforschung an den Universitäten sehr an Stellenwert verloren. Wer heute Biologie studiert, verbringt kaum mehr Zeit auf dem Feld, sondern vor allem im Labor. Es sind die Molekularbiologie, die Genetik, die heute an den Universitäten gelehrt wird.

Die Fachhochschulen übernehmen

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Im Rahmen der Biodiversitätsstrategie des Bundes gibt es seit ein paar Jahren auch eine Strategie zur Förderung der Artenkenntnis. Es sind unter anderem Fachhochschulen, die diese Strategie umsetzen. Sie übernehmen die Rolle, die früher die Universitäten hatten, und vermitteln wieder vermehrt Artenkenntnis an ihre Studierenden.

  «Wir haben Kästen voll mit Material, für das ich keine Experten finde, das wir momentan gar nicht aufarbeiten können, weil es die Experten nicht gibt», sagt Seraina Klopfstein. Viele Tiere und Pflanzen sterben aus, noch bevor wir sie überhaupt kennen.

Mangel an Wissen in der Bevölkerung

In der ganzen Gesellschaft habe die Beziehung zur Natur abgenommen, beobachtet Thomas Flory von Pro Natura. «Wir halten uns weniger draussen auf. Wir sitzen im Büro, Kinder spielen weniger draussen. Wir haben wenig Erfahrung mit der Natur und nehmen sie weniger wahr – und damit auch die Tiere und die Pflanzen.»

Es gibt weniger zu sehen

Kommt dazu, dass es wegen des Artensterbens und des Rückgangs von Tier- und Pflanzenpopulationen heute tatsächlich auch weniger zu entdecken gibt. «Welches Kind, welcher Erwachsene hat dieses Jahr mal wieder einen Maikäfer gesehen?», fragt Thomas Flory. Eine rhetorische Frage.

Kurse und Exkursionen sind sehr gefragt

Immerhin hat das Interesse an Pflanzen, Tieren und Lebensräumen in vielen Teilen der Bevölkerung wieder zugenommen, so die Experten. Vorträge, Feldbotanik- oder Ornithologiekurse stossen auf grosses Interesse. Für die Spezialisten ein Grund zur Hoffnung

Wissenschaftsmagazin, 03.06.23, 12:40 Uhr

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