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Rückkehr des Waldrapps Die Küken sind da! Das Comeback eines schrägen Vogels

Den Waldrapp gab es bei uns lange nur noch im Zoo. Nun ist er zurück in freier Wildbahn – auch dank menschlicher Hilfe.

Stirnglatze mit strubbeligem Federkranz, knallig rote Augen und ein langer, gebogener Schnabel: Der schräge Vogel mit «Punkfrisur» ist zurück in der Schweiz.

Dieses Mal brütete der bizarr aussehende Waldrapp aber nicht wie bereits 2023 auf dem Fenstersims einer Harley-Davidson-Garage in Rümlang (ZH), sondern vor einer Fensterluke im dritten Stock eines grossen Firmengebäudes in Vaulruz (FR). Vor kurzem sind dort zwei Küken geschlüpft.

Aufwändige Auswilderung

Bis ins 17. Jahrhundert war der etwa 70 Zentimeter grosse Waldrapp in Mitteleuropa noch heimisch. Doch dann machten ihm vor allem Jäger aufgrund seines wohlschmeckenden Fleisches und seiner geringen Scheu den Garaus.

Ab 1930 wurden die Vögel als Wildfänge aus Marokko in europäische Zoos gebracht, zuallererst nach Basel. Bis vor kurzem lebten sie in Europa deshalb nur noch in Gefangenschaft. Dank eines aufwändigen Auswilderungsprojekts von jungen Zootieren in Deutschland, Österreich und Italien tauchen sie mittlerweile aber auch in der Schweiz wieder auf.

Nahaufnahme eines Waldrapps vor blauem Himmel.
Legende: Sensibler Ibis-Vogel: Im langen Schnabel des Waldrapps stecken Tastorgane, um im Boden von Wiesen unter anderem Würmer aufzuspüren. Waldrappteam Conservation & Research

«In Vaulruz schauen kleine Schnäbel aus dem Nest und das helle Zwitschern der Küken ist bereits zu hören», freut sich Anne Schmalstieg vom Förderverein Waldrappteam Überlingen am Bodensee. Aus Brutkolonien von dort stammt auch das jetzige Elternpaar «Oskar» und «Grazia». Kennengelernt hätten sich die beiden Waldrappe jedoch erst in ihrem Winterquartier in der Toskana, um danach zu zweit in die Schweiz zu fliegen.

Zwei Ziehmütter für über 30 Zugvögel

Zum Waldrapp-Vater «Oskar» hat Schmalstieg eine besondere Beziehung. Denn sie hat ihn 2018 als Küken aus dem Tierpark Rosegg in Kärnten bekommen. Zusammen mit der Waldrapp-Expertin Corinna Esterer hat sie damals 33 Jungvögel von Hand aufgezogen.

Als menschliche Ziehmütter betreuten sie die Waldrapp-Küken von morgens bis abends. Sie haben die Kleinen mit viel Geduld und Leidenschaft gefüttert, gereinigt, gekrault. Um sie sozial noch mehr zu prägen, haben sie auch mit ihnen gesprochen und stets ein gelbes T-Shirt getragen.

Zwei Personen in gelben Shirts füttern schwarze Vögel auf einer Wiese.
Legende: Zwischen den Jungvögeln und den beiden Ziehmüttern, Anne Schmalstieg und Corinna Esterer, ist eine innige Beziehung entstanden. Waldrappteam Conservation & Research

Den Küken war es im Prinzip egal, wer sich um sie kümmert. «Noch heute erkennt Oskar mich», sagt Schmalstieg. Später war sie auch seine Fluglehrerin, um ihm und den anderen die Reiseroute ins geeignete Winterquartier zum Naturschutzgebiet Oasi Laguna di Orbetello in der Toskana zu zeigen.

Denn die flügge gewordenen Zugvögel aus dem Zoo haben keinen blassen Schimmer, wohin sie eigentlich ziehen sollten. Kein einziger adulter Waldrapp hätte es ihnen beibringen können. Deshalb hat Schmalstieg zusammen mit ihrer Kollegin die Jungtiere viele Wochen mit enormem Aufwand trainiert.

Flugstunden mit Vögeln

Am Anfang mussten sie die Tiere zuerst einmal an das Motorengeräusch des Ultraleichtflugzeugs gewöhnen, das am Himmel aussieht wie ein fliegendes Gokart mit einem Gleitschirm. Später kamen die ersten kurzen Ausflüge hinzu. Aus der Luft rief sie den Waldrappen dann über ein Megafon zu: «Komm, komm, Waldi, komm, komm!»

Zusammen abheben

Irgendwann habe es bei den Waldrappen Klick gemacht und sie hätten sich auf die abenteuerliche Reise mit den vielen Zwischenstopps von Süddeutschland bis in die Toskana eingelassen, sagt Schmalstieg. Insbesondere über den Alpen sei es wegen der sich oft ändernden Thermik für die Zugvögel, aber auch für sie selbst keine leichte Aufgabe gewesen.

Ein mehrköpfiges Bodenteam habe stets zu den jeweiligen Standorten für die Übernachtungen Volièren und weiteres Material für die etwa zwei Wochen lang andauernde Expedition hinterhergebracht.

Drei flauschige Waldrappküken werden von einer Hand gehalten.
Legende: Füttern, wiegen, kuscheln – die Küken bekommen viel Zuneigung von ihren menschlichen Ziehmüttern. Waldrappteam Conservation & Research

Trotz einiger Verluste von Waldrappen während der Migration zum Winterquartier scheint das bisher einzigartige Experiment mit der «Patchwork-Familie» aus Mensch und Vogel zu funktionieren. «Ähnlich wie im Hollywood-Film ‹Amy und die Wildgänse› folgen sie uns», sagt der Biologe und Pilot Johannes Fritz, der vor mehr als 20 Jahren das faszinierende, aber auch teure LIFE Projekt zur Wiederansiedlung der Waldrappe in freier Wildbahn begonnen hat. So etwas habe es vorher noch nie gegeben.

Inzwischen haben sie dank des europäischen Gemeinschaftsprojekts eine Population von insgesamt rund 300 Tieren aus vier Brutkolonien aufgebaut, drei nördlich und eine südlich der Alpen. Diese Vögel der ausgewilderten Population brechen alle ohne menschliches Management in das Winterquartier auf.

Erfolg für den Artenschutz

Dennoch brauchen die anderen, weiterhin direkt aus dem Zoo stammenden Jungvögel nach wie vor einen Mensch als Navigator und Fluglotsen: Seit 2023 führt die menschengeführte Migration nicht mehr in mehreren Etappen mit dem äusserst anspruchsvollen Flug über die Alpen nach Italien, sondern in den Süden Spaniens. Zurück kämen die Waldrappe aber immer allein, betont Fritz.

Erst vor drei Wochen sei der erste Waldrapp aus Andalusien selbstständig zurück nach Überlingen geflogen. Das mit einem Sender ausgestattete Weibchen «Dr. Saurier» habe eine enorme Strecke von 3200 Kilometer bewältigt. Dies sehe er als einen beispielhaften Erfolg für den Artenschutz. Denn die neue Route nach Spanien eigene sich besser und kompensiere die durch den Klimawandel aufgetretenen Probleme beim Überfliegen der Alpen.

Was ist aus der «Harley-Davidson»-Familie geworden?

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Waldrapp mit Federn auf einem Nest sitzend.
Legende: Das Waldrapp-Mutter «Rupert» im Jahr 2023 in Rümlang. Waldrappteam Conservation & Research

Im Frühjahr 2023 kehrten die Waldrappe «Rupert» und «Enea» von allein aus ihrem Winterquartier in Italien zurück in den Norden. Anstatt in ihr einstiges Brutgebiet nach Überlingen zu fliegen, brüteten sie ausgerechnet auf dem Fenstersims einer Harley-Davidson-Garage in Rümlang (ZH).

Es war die erste dokumentierte Wildbrut dieser Art in der Schweiz seit über 400 Jahren. Die zwei Küken bekamen die Namen von legendären Motorradmotoren und wurden «Knuckle» und «Panhead» getauft.

Pionier-Eltern gestorben

Im März 2024 starb jedoch der Waldrapp-Vater Enea in Domodossola, Italien. Es wird vermutet, dass er durch menschliches Handeln ums Leben kam. 

Die Waldrapp-Mutter Rupert kehrte im April 2024 zwar nach Rümlang zurück, fand jedoch ihren Partner nicht mehr vor. Sie zog daraufhin weiter nach Überlingen am Bodensee, wo sie mit einem anderen Männchen drei Küken aufzog. Im Oktober 2024 wurde sie tot in der Nähe des Brutgebiets in Überlingen gefunden. Die Todesursache konnte nicht eindeutig festgestellt werden. 

Der eigensinnige Knuckle

Der Jungvogel Knuckle verlor beim Herbstzug 2023 den Anschluss an seine Familie. Im Dezember 2023 wurde er in Luzern gesichtet, wo er sich über mehrere Monate aufhielt. Er zeigte sich gegenüber Menschen wenig scheu und nutzte städtische Strukturen als Rastplätze. Auch den zweiten Winter hat Knuckle in der Zentralschweiz überlebt.

«Panhead lebt dagegen weiterhin in Italien im Winterquartier, wo die Vögel in der Regel drei Jahre bis zur Geschlechtsreife bleiben», sagt der Waldrapp-Spezialist Johannes Fritz. Er werde somit voraussichtlich erst nächstes Jahr wieder zurückkehren.

Doch wozu dies alles? Macht es überhaupt Sinn, eine in Europa ausgestorbene Art hier wieder anzusiedeln? «Die aus dem Zoo nachgezüchteten Tiere werden bisher immer noch nicht als Wildvogel eingestuft», sagt der Naturschutzbiologe Livio Rey von der Vogelwarte Sempach, welche die in Vaulruz geschlüpften Küken demnächst beringen wird. Generell stelle sich beim Waldrapp stets die Frage, wie viel es bringe, nur eine einzelne Art zu retten statt Lebensräume aufzuwerten, wovon viele Arten profitierten.

Bisher gilt der Waldrapp weiterhin in ganz Europa als ausgestorben und wird weltweit in der Roten Liste als stark gefährdet beurteilt. Denn nur noch in Marokko lebt die letzte verbleibende Wildpopulation von etwa 700 Individuen. «Die dortigen Waldrappe sind mit der Zeit sesshaft geworden und zeigen inzwischen kein natürliches Zugverhalten mehr», erklärt Johannes Fritz, Gründer des europäischen Waldrapp-Teams.

Eine Art der Wiedergutmachung

Vor fast 400 Jahren starb der skurrile Vogel in Mitteleuropa aus. Zuvor war er hier noch weit verbreitet: So hat der Schweizer Naturforscher Conrad Gesner im 16. Jahrhundert den Waldrapp erstmals wissenschaftlich beschrieben. Seither wisse man, so Fritz, dass der Vogel damals im Frühling an bestimmten Orten in Österreich, Süddeutschland, der Schweiz und Italien gebrütet habe und Ende Sommer weggeflogen sei.

Da der Mensch ihn in Europa ausgerottet habe, sei es auch seine Pflicht, dies wiedergutzumachen, erklärt Oskars Ziehmutter Anne Schmalstieg. Hinzu käme, dass der Waldrapp niemanden schaden würde.

Anders als beim Bartgeier ist gemäss dem Bundesamt für Umwelt (BAFU) in der Schweiz jedoch keine aktive Förderung oder Wiederansiedlung des Waldrapps vorgesehen. «Vor einem Jahr wurde deshalb auch nach Jahre langem Hin und Her entschieden, dass es in der Nähe des Tierparks Goldau keine migrierende Waldrapp-Kolonie geben wird», sagt Pascal Marty, Kurator des Tierparks Goldau.

Nördlicher Glattnasenwaldrapp mit Wurm im Schnabel.
Legende: Ein Snack für zwischendurch: Waldrappe ernähren sich vor allem von Insektenlarven, Regenwürmern und anderen Wirbellosen. Waldrappteam Conservation & Research

«Viele finden, dass Waldrappe nicht schön sind», sagt Schmalstieg. Doch er habe auch zahlreiche Fans und in Vaulruz seien bereits die ersten, begeisterten Schaulustigen gewesen. Denn er sieht nicht nur skurril aus, sondern verhält sich auch so. Wenn sich zwei von ihnen begegnen, legen sie ihre beiden Köpfe in den Nacken und verneigen sich. Dabei krächzen sie ein heiseres «Chruu Chruu» aus den unbefiederten, rot gefärbten Kehlen.

Endlich wieder Kaffee

Auch Oskar habe sie damals immer mit diesen speziellen Lauten begrüsst. Jetzt sei er deutlich zurückhaltender, was ja auch verständlich und völlig natürlich wäre, fügt sie hinzu. Dennoch würde diese besondere Verbindung zu ihm für immer bestehen bleiben. Als menschliche Ziehmutter hatte sie alles gegeben und die ersten drei Wochen nicht einmal Kaffee trinken dürfen, weil der menschliche Speichel als Verdauungsenzym zum Vogelfutter gemischt werden musste.

«Es waren sehr intensive und besondere Zeiten», sagt Schmalstieg. Sie werde demnächst auch dabei sein, wenn Oskars Küken zum Beringen aus dem Nest geholt werden. So eine Aufzucht von Jungvögeln sei fast wie mit den eigenen Kindern - nur dass man nachts nicht aufstehen müsse.

Kultur-Aktuell, 06.06.2025, 17:10 Uhr

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