Die 42-Jährige ist zum vierten Mal in Locarno und erinnert sich: «Als ich 2010 das erste Mal hier war, kurz nachdem ich den Iran verlassen hatte, war ich sehr jung und wie ein kleiner Vogel, der vom Baum gefallen war.» Nun widmet sie ihren Ehrenleoparden dem Piazza-Publikum und allen, «die in dieser dunklen, düsteren Welt immer noch an Kunst und Kultur glauben.»
Nach Locarno mitgebracht hat sie den Body-Horror-Film «Alpha» von Julia Ducournau («Titane»), in dem ein tödliches Virus grassiert. Übertragen durch Blut und Injektionsnadeln, lässt es die Menschen allmählich versteinern. Panik breitet sich aus.
Trauma der Generationen
Mittendrin ist die grossartige Golshifteh Farahani als Ärztin Maman. Die Angst erreicht auch Mamans Familie: Ihre Tochter Alpha hat sich ein Tattoo stechen lassen. Ihr Bruder Amin ist heroinabhängig. Maman kümmert sich aufopferungsvoll um beide, traumatisiert durch Sorge, Kummer und Schmerz.
Dieses generationenübergreifende Trauma sei genau das, was sie mit der Hauptfigur des Films gemeinsam habe, sagt Golshifteh Farahani. Auch in ihrer Familie hat sich ein Drama ereignet: Ihre Grossmutter nahm sich das Leben. Doch auch die Situation im Iran belastete die Schauspielerin: Ihre Kindheit im Iran-Irak-Konflikt, das Leben als Frau in einem totalitären System – all das prägte sie.
Nachdem sie mit Leonardo DiCaprio in Hollywood 2008 Ridley Scotts «Body of Lies» gedreht hatte, wurde sie vom iranischen Regime derart drangsaliert, dass sie nach Frankreich auswanderte.
Das Kino als treuer Gefährte
Heute lebt Farahani in Paris und ist regelmässiger Gast auf den grossen Filmfestivals. In Cannes feierte ihr Film «Alpha» dieses Jahr Weltpremiere. Gleichzeitig ist sie mit 17 Millionen Followern auf Instagram eine der meistgehörten iranischen Stimmen weltweit und wurde zum Symbol für die Frauenbewegung im Iran.
«Die Bewegung ‹Frau, Leben, Freiheit› war für uns, die wir ausserhalb des Irans leben, sehr schwierig auszuhalten», so Farahani. «Denn wenn man mitten im Geschehen ist, merkt man nicht, wie verletzt man ist. Und wenn man im Exil ankommt, wird man auf diese Verletzungen zurückgeworfen. Und muss sie alle heilen.»
Geholfen hat ihr das Filmemachen. Für sie sei das Kino ein treuer Lebensgefährte: «Er war immer bei mir, in allen Phasen meines Lebens. Seit ich 14 Jahre alt war im Iran, dann als ich weggegangen bin ins Exil und in den Momenten, in denen ich wie eine Kakerlake in Paris auf dem Boden lag – völlig zerstört.»
Das Kino sei immer da gewesen, wie ein treuer Freund. Das Kino ist für sie – das wird in Locarno klar – die Kraft, um die düstere Welt heller zu machen.