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Abgewiesene Asylsuchende «Wie kann man erwarten, dass Kinder da gesund bleiben?»

Am Wochenende ins Hallenbad, ein Klassengspänli zur Übernachtungsparty einladen oder einfach mal lang ausschlafen – für Kinder, die in Rückkehrzentren leben, geht das nicht. Ihre Lebensumstände gefährden ihre psychische Gesundheit, warnen Betroffene und Fachleute.

Es ist frühmorgens. Ein elfjähriger Bub, der hier zum Schutz nicht mit Namen genannt wird, erwacht aufgrund des Lärms auf dem Gang. Die Polizei ist da. Im Rückkehrzentrum für abgewiesene Asylsuchende wird eine Familie ausgeschafft.

«Mein Sohn zog sich an und sass still in einer Ecke unseres Zimmers. Es war sehr schwierig für ihn», erinnert sich Firoozeh Miyandar. Mit ihrer Familie lebt sie seit eineinhalb Jahren in Aarwangen in einer Kollektivunterkunft.

Frau mit rotem Pulli in nebliger Landschaft
Legende: Trotz ihrer Situation versucht sich Firoozeh Miyandar aktiv an der Gesellschaft zu beteiligen. Zum Beispiel engagiert sie sich im Schweizer Flüchtlingsparlament in der Kinderrechtskommission. VOLLTOLL/Jana Leu

«Wir haben kein Sicherheitsgefühl», beschreibt die Physiotherapeutin ihre allgemeine Situation. «Wie kann man erwarten, dass Kinder in solchen Umständen psychisch gesund bleiben?»

Kein Asyl

Familie Miyandar flüchtete vor mehr als drei Jahren aus dem Iran in die Schweiz. Die Behörden stuften die geltend gemachten Fluchtgründe als nicht glaubhaft ein. Sie lehnten den Asylantrag ab: Die Familie muss die Schweiz verlassen. Doch zurück in den Iran wollte sie nicht. «Wir haben Angst, dass wir gefoltert oder sogar getötet werden.»

Die Lage im Iran

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Seit den landesweiten Protesten im Jahr 2022, ausgelöst durch den Tod von Masha Amini in Polizeigewahrsam, haben Repressionen gegen Andersdenkende stark zugenommen. Festnahmen, Folter und eine hohe Zahl an Hinrichtungen prägen die aktuelle Situation. Das Staatssekretariat für Migration SEM bestätigt, dass sich die menschenrechtliche Lage seit dem israelisch-iranischen Konflikt im Juni 2025 weiter verschlechtert hat.

Trotz der angespannten Lage vertritt das SEM die Position, eine Rückkehr abgewiesener Asylsuchender sei allgemein möglich und zumutbar. Es gebe aktuell keinen generellen Vollzugsstopp, schreibt es auf Anfrage von SRF. Es werde jedoch jeder Einzelfall geprüft. Seien Kinder von einem Wegweisungsentscheid betroffen, würde in jedem Fall (unabhängig vom Heimatland) das Kindswohl berücksichtigt.

Die Schweiz hat mit dem Iran kein Rückübernahmeabkommen. Abgewiesene Asylsuchende dürfen also nicht zwangsweise ausgeschafft werden. Bei einer freiwilligen Ausreise stellt die iranische Vertretung in Bern Ersatzpapiere aus.

Gemäss SEM wurden per Ende 2024 389 Asylgesuche von Iranerinnen und Iranern gestellt, die Schutz- und Asylgewährungsquote lag bei 38.74 Prozent.

Abgewiesene Asylsuchende bekommen Nothilfe, wenn sie nicht zurück wollen oder nicht ausgeschafft werden können, weil zum Beispiel Papiere fehlen oder es – wie mit Eritrea oder Iran – kein Rückübernahmeabkommen mit den Herkunftsländern gibt. Die Nothilfe soll minimal unterstützen, aber keine Anreize schaffen, in der Schweiz zu bleiben.

Fakten zur Nothilfe

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Gemäss nationalem Asylgesetz gilt ein striktes Arbeitsverbot. Für Jugendliche bedeutet dies, dass sie nach der obligatorischen Schule keine Lehre beginnen dürfen. Die konkrete Ausgestaltung variiert von Kanton zu Kanton, teilweise stark.

  • Finanzielle Unterstützung: Für den alltäglichen Bedarf gibt es je nach Kanton zwischen 7 und 14 Franken pro Tag, manchmal gibt es anstelle von Geld Sachspenden (Essen, Hygieneartikel, Kleidung).
  • Unterbringung: Meistens in Kollektivunterkünften, Privatwohnungen sind möglich. Oft sind Kollektivunterkünfte sehr abgelegen, meist geschlechtergemischt, teilweise spezifisch für Familien und alleinstehende Frauen. In manchen Kantonen müssen die Menschen die Unterkunft tagsüber verlassen.
  • Gesundheit: Die Krankenkasse-Prämie wird von den Kantonen übernommen. Die medizinische Notfallversorgung ist gewährleistet. Spezifische Behandlungen wie etwa bei chronischen Krankheiten oder psychotherapeutische und psychiatrische Begleitung sind in der Regel auf Gesuch hin möglich.
  • Dauer: Das Gesetz sieht Nothilfe für drei Monate vor, de facto leben aber viele länger in diesen Strukturen. Ab einem Jahr spricht das Staatssekretariat für Migration von Langzeit-Nothilfe. Gemäss Statistik waren es per Ende 2024 waren es 2088 Menschen, davon 449 Kinder/Jugendliche (231 mehr als drei Jahre). Die meisten kamen ausEritrea (220), Irak (211), Iran (179) oder Sri Lanka (171).

Im Rückkehrzentrum Aarwangen lebten Anfang Dezember 138 Menschen, davon 53 Kinder und Jugendliche. Vieles scheint renovationsbedürftig im ehemaligen Knabenheim.

Für das Gebäude ist der Kanton zuständig, für die Menschen und den Betrieb die Firma ORS. Sie gehört zur Serco Group, einem börsennotierten Unternehmen, das auch Gefängnisse betreibt.

Für den Sohn wünscht sich die 38-jährige Iranerin ein möglichst normales Leben. Zwar besucht er die Schule im Dorf, trifft sich mit Gleichaltrigen zum Fussball spielen. Doch oft ziehe er sich mit dem Handy zurück, leide unter Alpträumen, Schlafstörungen oder Nägelkauen – Symptome, die die Mutter auf den Stress zurückführt. «Niemand von uns als Elternteil will sein Kind in dieser Situation haben.»

Porträt von Frau in rotem Pulli vor Laubbaum
Legende: Weil ihr Asylantrag abgelehnt wurde, darf die Physiotherapeutin Firoozeh Miyandar in der Schweiz nicht arbeiten. VOLLTOLL / Jana Leu

Das Kind wird psychotherapeutisch begleitet im Berner Ambulatorium für traumatisierte Menschen mit Kriegs-, Folter- oder Fluchterfahrung. Das sei wertvoll, trotzdem mache sie sich Sorgen: «Erst wenn ein Sicherheitsgefühl da ist, können Traumata wirklich behandelt werden.» Weil die Familien immer wieder in die Nothilfestrukturen zurückkommen, sei das schwierig.

Fachpersonen warnen: Nothilfe schadet Kindern

Das Kindswohl und die psychische Gesundheit seien besonders in der Langzeit-Nothilfe gefährdet. Davor warnten Expertinnen und Experten aus Medizin und Psychologie kürzlich in einem offenen Brief. Auch Kinderrechtsorganisationen kritisieren immer wieder die Situation.

Die Lebensumstände von Kindern und Jugendlichen in der Nothilfe wurden vor rund einem Jahr erstmals systematisch untersucht: Die Eidgenössische Migrationskommission gab eine Studie heraus. Ergebnis: Sie müssten viel besser geschützt werden. Auch, um die Kinderrechte garantieren zu können, wie sie in der Bundesverfassung oder UNO-Kinderrechtskonvention festgehalten sind.

Studie «Kinder und Jugendliche in der Nothilfe im Asylbereich»

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Die Studie wurde vom renommierten Marie Meierhofer Institut für das Kind durchgeführt. Dazu verfasste die Universität Neuenburg ein Rechtsgutachten. Alle Kantone haben mitgemacht, bis auf den Kanton Zürich.

Im Erhebungszeitraum lebten rund 700 Minderjährige in der Nothilfe. Über 50 Prozent von ihnen befanden sich im Langzeitbezug, teilweise drei bis vier Jahre oder länger.

Die Studie hebt eine Vielzahl von Risiken hervor:

  • Wohnsituation: Durchschnittlich lebten fünf Personen in einem Zimmer. Dies führe zu mangelnder Privatsphäre, Lärm und fehlenden Rückzugsmöglichkeiten. Viele Unterkünfte seien abgelegen, dies verstärke die soziale Isolation. Einige weisen hygienische Mängel oder unsichere Spielplätze auf.
  • Gesundheitliche Versorgung: Lücken gäbe es bei der Vorsorge. Die Zahngesundheit sei oft schlecht, da zahnärztliche Behandlungen nicht zur Grundversorgung gehörten.
  • Psychische Gesundheit: Der psychische Zustand der Kinder sei äusserst schlecht. Sie erlebten verstörende Ereignisse wie Gewalt unter Bewohnenden, Polizeieinsätze und Suizidversuche. Viele zeigten Entwicklungs- oder Verhaltensauffälligkeiten, Schlaf- und Angststörungen. Psychotherapeutische und psychiatrische Behandlungen seien aufgrund praktischer Hürden und fehlender Ressourcen oft unzureichend.
  • Bildung und Entwicklung: Oft würden schulpflichtige Kinder in separaten Klassen oder unterkunftsintern beschult. Das beeinträchtige die Qualität der Bildung, erschwere soziale Teilhabe. Für Kleinkinder unter vier Jahren bestehe ein hohes Risiko der Unterstimulation, da der Zugang zu externen Betreuungsangeboten in der Regel fehle. Jugendliche nach der obligatorischen Schulzeit hätten kaum Zugang zu weiterer Bildung oder Berufslehren (Arbeitsverbot), was ihre Zukunftsaussichten massiv einschränke.

Soziale Isolation

«Besonders problematisch sind abgelegene und baufällige Unterkünfte», sagt Nina Hössli von «Save The Children». Sie kennt viele Kollektivunterkünfte der Schweiz, da die Kinderrechtsorganisation auf Anfrage Behörden oder Betreuungsorganisationen berät, mit Mitarbeitenden oder Eltern Schulungen durchführt.

Links Baum, im Hintergrund Haus, nebliges Wetter
Legende: Rückkehrzentrum Aarwangen: Hier leben – Stand anfangs Dezember 2025 – 138 Menschen, davon 53 Kinder und Jugendliche. Im Gebäude des ehemaligen Knabenheims ist vieles renovationsbedürftig. VOLLTOLL/Jana Leu

Solche Kollektivunterkünfte würden die Kinder sozial isolieren, so Hössli. Komme hinzu, dass es kaum Rückzugsmöglichkeiten gäbe: «Es fehlt Ruhe zum Spielen, Lernen oder Schlafen. Die Kinder können nicht ausweichen, wenn sich zum Beispiel Erwachsene streiten, oder sie hören es, wenn im Nebenzimmer jemand ausgeschafft wird.»

Schutzmassnahmen

Nebst dieser Reizüberflutung gäbe es gleichzeitig einen Reizentzug, «da genügend geschultes Personal oder eine altersgerechte Förderung und Tagesstruktur fehlt, um den Entwicklungen und Bedürfnissen der Kinder gerecht zu werden».

Nina Hössli plädiert darum für fördernde Massnahmen: Also, dass Kleinkinder in Spielgruppen dürfen oder sie später an Tagesschulen, Mittagstischen oder Schulausflügen teilnehmen dürfen. So kämen sie auch mit Menschen von ausserhalb der Zentren in Kontakt. «In der Praxis sehen wir gute Beispiele, wie einzelne Zentren oder Behörden versuchen, solche Schutzmassnahmen systematisch aufzugleisen.»

Schliesslich gehe es auch darum, die Kinder vor Gewalt zu schützen: weil sie diese am eigenen Leib erfahren, aber noch häufiger für sie bedrohlich wirkende Situationen miterleben. Auch diese Situationen könnten die Kinder stark belasten. «Schutz vor Gewalt ist laut der UN-Kinderrechtskonvention auch eine Verpflichtung des Staates. Dazu gehört, dass Kinder sich sicher fühlen. Das gilt für alle, egal welchen Aufenthaltsstatus sie in der Schweiz haben», betont Hössli.

«Schweiz macht genug»

Andreas Hegg ist FDP-Politiker im Berner Kantonsparlament und überzeugt, die Schweiz und besonders sein Kanton mache genug für abgewiesene Asylsuchende: «Wir schauen anständig zu diesen Personen. Aber schlussendlich müssen sie unser Land verlassen.»

Das SEM mache gute Arbeit. «Wer tatsächlich an Leib und Leben gefährdet ist, bekommt Asyl. Aber wir können nicht alle aufnehmen, sonst kollabiert unser System», betont Hegg.

Gegen Sonderbehandlung

Dass es im Kanton Bern seit ein paar Jahren Kollektivunterkünfte spezifisch für Familien gibt, findet er gut, «gerade für die Kinder ist das besser. Ihre Situation ist nicht leicht, das sehe ich». Er lehnt es aber ab, Familien privat unterzubringen. Unter bestimmten Voraussetzungen ist das im Kanton Bern möglich.

Ein Bündnis von Grüne, SP, EVP und mit einer FDP-Stimme wollte zu Beginn der diesjährigen Wintersession erreichen, dass Familien in der Nothilfe ab einem halben Jahr standardmässig in eine Privatwohnung umziehen könnten.

Nothilfe-Beziehende im kantonalen Vergleich

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Wie viele Menschen ein Kanton betreut, deren Asylgesuch abgelehnt wurde und die mit Nothilfe leben, hängt stark von dessen Grösse ab. Zum Vergleich (jeweils per Ende 2024):

Kanton Bern

  • 583 Menschen, davon 115 Kinder und Jugendliche

Mehr als die Hälfte lebt länger als ein Jahr in der Nothilfe: bis zu zwei Jahren 57 Personen, zwischen zwei und fünf Jahren 128 Personen, länger als fünf Jahre 96 Personen.

Kanton Aargau

  • 395 Menschen, davon 90 Kinder und Jugendliche

Bis zu einem Jahr waren es 255 Personen, zwischen einem bis zu drei Jahren 90 Personen, länger als drei Jahre 136 Personen.

Kanton Nidwalden

  • 8 Menschen, keine Kinder und Jugendliche

Fünf Personen leben länger als ein Jahr in der Nothilfe, zwei Personen bis zu zwei Jahren, drei Personen bis zu drei Jahren. Bis vor Kurzem lebten keine Kinder in der Nothilfe, zwei wurden erst vor wenigen Monaten in der Schweiz geboren.

Andreas Hegg war dagegen. «Sonst werden sie integriert und das will man eben nicht.» Zudem sei es eine Ungleichbehandlung und würde das System untergraben. «Das Schweizer Stimmvolk hat zu etwas anderem Ja gesagt, als es die beschleunigten Verfahren angenommen hat.»

Und den Familien würde es in den Rückkehrzentren «wahrscheinlich viel besser gehen als in ihren Herkunftsländern», sagt Hegg.

«Wir sind verpflichtet, Kinderrechte einzuhalten»

Anders sieht das die Berner SP-Grossrätin Karin Berger-Sturm. Seit Langem engagiert sie sich im Bereich Nothilfe, hat die überparteiliche parlamentarische Gruppe Migration mitbegründet und sagt: «Das Asylsystem wird nicht umgangen, wenn wir die Kinderrechte einhalten.»

Diese sieht sie durch die Lebensbedingungen in Kollektivunterkünften verletzt. «Kinder haben ein Recht auf Ruhe und Erholung. Aber in den Zentren finden sie das nicht.» Kinderrechte müssten vorrangig beachtet werden. Das hiesse nicht «irgendwie auch noch» oder «besser als anderswo», sondern «es ist unsere Pflicht, sie einzuhalten».

Hoffnungsvoll in die Zukunft?

Die Zukunft von Firoozeh Miyandar und ihrer Familie bleibt ungewiss. Ob sie eines Tages ein Härtefall-Gesuch stellen wird, weiss sie nicht. Nach fünf Jahren wäre das möglich, Stand heute. Die Hürden sind hoch, besonders beim Kanton.

Eine Motion der SVP will die Frist von mindestens fünf Jahren auf zehn erhöhen. Firoozeh Miyandar bleibt hoffnungsvoll. «Ich möchte mich weiter integrieren und meinen Sohn unterstützen, damit er sich möglichst normal entwickeln kann.»

Radio SRF 2 Kultur, Perspektiven, 7.12.2025, 8:30 Uhr; herb

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