Es ist frühmorgens. Ein elfjähriger Bub, der hier zum Schutz nicht mit Namen genannt wird, erwacht aufgrund des Lärms auf dem Gang. Die Polizei ist da. Im Rückkehrzentrum für abgewiesene Asylsuchende wird eine Familie ausgeschafft.
«Mein Sohn zog sich an und sass still in einer Ecke unseres Zimmers. Es war sehr schwierig für ihn», erinnert sich Firoozeh Miyandar. Mit ihrer Familie lebt sie seit eineinhalb Jahren in Aarwangen in einer Kollektivunterkunft.
«Wir haben kein Sicherheitsgefühl», beschreibt die Physiotherapeutin ihre allgemeine Situation. «Wie kann man erwarten, dass Kinder in solchen Umständen psychisch gesund bleiben?»
Kein Asyl
Familie Miyandar flüchtete vor mehr als drei Jahren aus dem Iran in die Schweiz. Die Behörden stuften die geltend gemachten Fluchtgründe als nicht glaubhaft ein. Sie lehnten den Asylantrag ab: Die Familie muss die Schweiz verlassen. Doch zurück in den Iran wollte sie nicht. «Wir haben Angst, dass wir gefoltert oder sogar getötet werden.»
Abgewiesene Asylsuchende bekommen Nothilfe, wenn sie nicht zurück wollen oder nicht ausgeschafft werden können, weil zum Beispiel Papiere fehlen oder es – wie mit Eritrea oder Iran – kein Rückübernahmeabkommen mit den Herkunftsländern gibt. Die Nothilfe soll minimal unterstützen, aber keine Anreize schaffen, in der Schweiz zu bleiben.
Im Rückkehrzentrum Aarwangen lebten Anfang Dezember 138 Menschen, davon 53 Kinder und Jugendliche. Vieles scheint renovationsbedürftig im ehemaligen Knabenheim.
Für das Gebäude ist der Kanton zuständig, für die Menschen und den Betrieb die Firma ORS. Sie gehört zur Serco Group, einem börsennotierten Unternehmen, das auch Gefängnisse betreibt.
Für den Sohn wünscht sich die 38-jährige Iranerin ein möglichst normales Leben. Zwar besucht er die Schule im Dorf, trifft sich mit Gleichaltrigen zum Fussball spielen. Doch oft ziehe er sich mit dem Handy zurück, leide unter Alpträumen, Schlafstörungen oder Nägelkauen – Symptome, die die Mutter auf den Stress zurückführt. «Niemand von uns als Elternteil will sein Kind in dieser Situation haben.»
Das Kind wird psychotherapeutisch begleitet im Berner Ambulatorium für traumatisierte Menschen mit Kriegs-, Folter- oder Fluchterfahrung. Das sei wertvoll, trotzdem mache sie sich Sorgen: «Erst wenn ein Sicherheitsgefühl da ist, können Traumata wirklich behandelt werden.» Weil die Familien immer wieder in die Nothilfestrukturen zurückkommen, sei das schwierig.
Fachpersonen warnen: Nothilfe schadet Kindern
Das Kindswohl und die psychische Gesundheit seien besonders in der Langzeit-Nothilfe gefährdet. Davor warnten Expertinnen und Experten aus Medizin und Psychologie kürzlich in einem offenen Brief. Auch Kinderrechtsorganisationen kritisieren immer wieder die Situation.
Die Lebensumstände von Kindern und Jugendlichen in der Nothilfe wurden vor rund einem Jahr erstmals systematisch untersucht: Die Eidgenössische Migrationskommission gab eine Studie heraus. Ergebnis: Sie müssten viel besser geschützt werden. Auch, um die Kinderrechte garantieren zu können, wie sie in der Bundesverfassung oder UNO-Kinderrechtskonvention festgehalten sind.
Soziale Isolation
«Besonders problematisch sind abgelegene und baufällige Unterkünfte», sagt Nina Hössli von «Save The Children». Sie kennt viele Kollektivunterkünfte der Schweiz, da die Kinderrechtsorganisation auf Anfrage Behörden oder Betreuungsorganisationen berät, mit Mitarbeitenden oder Eltern Schulungen durchführt.
Solche Kollektivunterkünfte würden die Kinder sozial isolieren, so Hössli. Komme hinzu, dass es kaum Rückzugsmöglichkeiten gäbe: «Es fehlt Ruhe zum Spielen, Lernen oder Schlafen. Die Kinder können nicht ausweichen, wenn sich zum Beispiel Erwachsene streiten, oder sie hören es, wenn im Nebenzimmer jemand ausgeschafft wird.»
Schutzmassnahmen
Nebst dieser Reizüberflutung gäbe es gleichzeitig einen Reizentzug, «da genügend geschultes Personal oder eine altersgerechte Förderung und Tagesstruktur fehlt, um den Entwicklungen und Bedürfnissen der Kinder gerecht zu werden».
Nina Hössli plädiert darum für fördernde Massnahmen: Also, dass Kleinkinder in Spielgruppen dürfen oder sie später an Tagesschulen, Mittagstischen oder Schulausflügen teilnehmen dürfen. So kämen sie auch mit Menschen von ausserhalb der Zentren in Kontakt. «In der Praxis sehen wir gute Beispiele, wie einzelne Zentren oder Behörden versuchen, solche Schutzmassnahmen systematisch aufzugleisen.»
Schliesslich gehe es auch darum, die Kinder vor Gewalt zu schützen: weil sie diese am eigenen Leib erfahren, aber noch häufiger für sie bedrohlich wirkende Situationen miterleben. Auch diese Situationen könnten die Kinder stark belasten. «Schutz vor Gewalt ist laut der UN-Kinderrechtskonvention auch eine Verpflichtung des Staates. Dazu gehört, dass Kinder sich sicher fühlen. Das gilt für alle, egal welchen Aufenthaltsstatus sie in der Schweiz haben», betont Hössli.
«Schweiz macht genug»
Andreas Hegg ist FDP-Politiker im Berner Kantonsparlament und überzeugt, die Schweiz und besonders sein Kanton mache genug für abgewiesene Asylsuchende: «Wir schauen anständig zu diesen Personen. Aber schlussendlich müssen sie unser Land verlassen.»
Das SEM mache gute Arbeit. «Wer tatsächlich an Leib und Leben gefährdet ist, bekommt Asyl. Aber wir können nicht alle aufnehmen, sonst kollabiert unser System», betont Hegg.
Gegen Sonderbehandlung
Dass es im Kanton Bern seit ein paar Jahren Kollektivunterkünfte spezifisch für Familien gibt, findet er gut, «gerade für die Kinder ist das besser. Ihre Situation ist nicht leicht, das sehe ich». Er lehnt es aber ab, Familien privat unterzubringen. Unter bestimmten Voraussetzungen ist das im Kanton Bern möglich.
Ein Bündnis von Grüne, SP, EVP und mit einer FDP-Stimme wollte zu Beginn der diesjährigen Wintersession erreichen, dass Familien in der Nothilfe ab einem halben Jahr standardmässig in eine Privatwohnung umziehen könnten.
Andreas Hegg war dagegen. «Sonst werden sie integriert und das will man eben nicht.» Zudem sei es eine Ungleichbehandlung und würde das System untergraben. «Das Schweizer Stimmvolk hat zu etwas anderem Ja gesagt, als es die beschleunigten Verfahren angenommen hat.»
Und den Familien würde es in den Rückkehrzentren «wahrscheinlich viel besser gehen als in ihren Herkunftsländern», sagt Hegg.
«Wir sind verpflichtet, Kinderrechte einzuhalten»
Anders sieht das die Berner SP-Grossrätin Karin Berger-Sturm. Seit Langem engagiert sie sich im Bereich Nothilfe, hat die überparteiliche parlamentarische Gruppe Migration mitbegründet und sagt: «Das Asylsystem wird nicht umgangen, wenn wir die Kinderrechte einhalten.»
Diese sieht sie durch die Lebensbedingungen in Kollektivunterkünften verletzt. «Kinder haben ein Recht auf Ruhe und Erholung. Aber in den Zentren finden sie das nicht.» Kinderrechte müssten vorrangig beachtet werden. Das hiesse nicht «irgendwie auch noch» oder «besser als anderswo», sondern «es ist unsere Pflicht, sie einzuhalten».
Hoffnungsvoll in die Zukunft?
Die Zukunft von Firoozeh Miyandar und ihrer Familie bleibt ungewiss. Ob sie eines Tages ein Härtefall-Gesuch stellen wird, weiss sie nicht. Nach fünf Jahren wäre das möglich, Stand heute. Die Hürden sind hoch, besonders beim Kanton.
Eine Motion der SVP will die Frist von mindestens fünf Jahren auf zehn erhöhen. Firoozeh Miyandar bleibt hoffnungsvoll. «Ich möchte mich weiter integrieren und meinen Sohn unterstützen, damit er sich möglichst normal entwickeln kann.»