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Alltag mit Corona Ich habe heute keinen Termin für dich

Welcher Wochentag ist heute nochmal? Weshalb wir es geniessen sollten, unser Gefühl für Zeit zu verlieren.

Meine Armbanduhr hat’s sofort geschnallt: Pünktlich zum Lockdown hörte sie auf zu ticken. Den Batteriewechsel habe ich seither schleifen lassen. Die Uhr verstaubt stumm auf dem Nachttisch, während mein Zeitgefühl flöten geht.

Wie war das nochmal, ein Alltag mit voller Agenda? Bis Mitte März hielt mich das Tetris der Termine auf Trab. Danach steht nur noch Durchgestrichenes auf den Agenda-Seiten.

Mein Kalender gleicht einem Kondolenzbuch für einst geplante Feste, Festivals und Ferien. Freizeitstress – das war einmal. Nun habe ich Unmengen unverplanter Zeit.

Alles aus dem Takt

Gleichzeitig laufen Alltag und Arbeit plötzlich zeitgleich. Der «Nine to Five»-Rhythmus? Funktioniert nicht mehr richtig. Im Home Office dauert die kurze Kaffeepause schon mal eine Stunde – und drängt dafür den Feierabend in die Dämmerung.

Die Uhrzeit als Taktgeber des Alltags scheint – pardon – aus der Zeit gefallen. Kein Wunder, hat sich auch mein Zeitgefühl verabschiedet. Welcher Wochentage ist heute? Welcher Monat? Keine Ahnung, aber es fühlt sich nach Frühsommer an.

To Do – or not to do?

Ausserhalb der Arbeitszeit ist der Alltag erst recht ausgebremst. Je leerer der Terminplan, desto mehr dehnen sich die Tage. Die Zeit rennt nicht mehr. Sie vergeht, ganz gemächlich. In einem Tempo, das einlädt, sie zu verbummeln.

«Wunderbar», frohlockt die fröhliche Faulenzerin in mir: «Endlich einmal echt entschleunigen!» Aber irgendwo poltert auch noch der protestantische Leistungseifer. Der grummelt mit Goethe: «Was verkürzt mir die Zeit? Tätigkeit! Was macht sie unerträglich lang? Müssiggang!»

Also muss eine «To Do»-Liste her, um die ausgedünnten Agendaseiten wieder aufzufüllen: Sofa entfusseln. Steuererklärung machen. Schach lernen. Sirup kochen. Bis man spätestens nach ein paar Stunden sinnlosen Kleinkrams merkt: Viel spassiger ist es doch, die Zeit völlig ziellos vorbeiziehen zu lassen.

Die Freude am Verpassen

Plötzlich ist da Raum für Spontanität. Für das Ungeplante. Wie wundervoll, wenn das Abendessen den halben Tag dauert! Wie schön, ein Bier an der Sonne zu kredenzen, wenn man die Kindergarten-Kollegin auf der Strasse trifft. Und beim Flanieren in einen gedanklichen Flow zu geraten: genial.

Ohne grosse Pläne ist auch meine Panik vor dem Verpassen passé. Für dieses Wohlgefühl gibt es sogar ein Wort: Statt der üblichen FOMO («Fear of Missing Out») hat mich nun offensichtlich die JOMO («Joy of Missing Out») gepackt.

Verweilen im verlorenen Zeitgefühl

Wie war das, als gewisse Freundschaften nur dank Doodle überlebten? Als man sich noch entscheiden musste, zu welchem Fest man freitags will? Als man Einladungen allen Ernstes mit dem Satz absagte: «Sorry, zu viel los»?

Ich werde es bald wieder wissen. Der Lockdown ist gelockert – und Langeweile langsam nicht mehr angesagt. Ich bin versucht, die Agenda mit allerlei Plänen aufzupäppeln – und endlich einen Termin beim Uhrmacher zu buchen.

Aber ich will das verlorene Zeitgefühl noch ein wenig geniessen. Denn das beste Taktgefühl hat – so glaube ich inzwischen – meine innere Uhr. Und die läuft grad wie am Schnürchen, auch ohne Batterien.

Sendung: Radio SRF 2 Kultur, Kontext, 28.5.20, 9:02 Uhr

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