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Demowelle in Deutschland «Das waren Proteste der demokratischen Mitte»

Proteste gegen die deutsche Klimapolitik, Bauern, die mit ihren Traktoren die Strassen blockieren, und nun demonstrieren hunderttausende Menschen in Deutschland gegen Rechts . Was geschieht gerade in unserem Nachbarland? Der Soziologe Oliver Nachtwey hat sich die jüngsten Demos genauer angesehen.

Oliver Nachtwey

Soziologe

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Oliver Nachtwey, geb. 1975, studierte in Hamburg Volkswirtschaft und promovierte in Göttingen in Sozialwissenschaften. Seit 2017 ist er Professor für Sozialstrukturanalyse an der Universität Basel. Zu seinen Buchpublikationen zählen etwa «Die Abstiegsgesellschaft. Über das Aufbegehren in der regressiven Moderne» (Suhrkamp 2016) und «Marktsozialdemokratie. Die Transformation von SPD und Labour Party» (VS-Verlag 2009).

SRF: Seit Anfang der 1990er-Jahre wurde das Demonstrieren in Deutschland, mit Ausnahme der Klimademonstrationen, eigentlich immer weniger wichtig. Das hat sich nun deutlich verändert. Warum?

Oliver Nachtwey: So stark hat sich die Demonstrationskultur in Deutschland nicht verändert. 2003 haben zum Beispiel 500'000 Menschen gegen den Irakkrieg demonstriert. Geändert hat sich, dass die sozialen Bewegungen, die oft die Träger von Protesten waren, schwächer geworden sind.

Es wird ernster. Es geht um grosse und wichtige Fragen

Jetzt sehen wir vermehrt Proteste, die dezentral organisiert sind. Und Proteste, die eine grosse Entfremdung der Demokratie ausdrücken. Und diese Entfremdung betrifft eben sehr viele Menschen.

Man hatte lange den Eindruck, Demos bringen wenig. Ändert sich das gerade?

Das kann man noch nicht genau sagen. Bei den «Fridays for Future»-Demos gingen sehr viele auf die Strasse, geändert hat sich hingegen wenig. Was sich aber ändert: Es wird ernster. Es geht um grosse und wichtige Fragen. Zum Beispiel um die Zukunft der Bauern und ihrer Höfe . Oder wie zuletzt, um die Frage der Demokratie. Das treibt viele Menschen aktuell nach vorne.

Worum ging es bei den Massendemonstrationen in Deutschland?

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Auslöser der seit mehreren Tagen andauernden Demonstrationen ist ein Bericht des Medienhauses Correctiv. Dieses hatte über ein bis dahin nicht bekanntes Treffen von Rechtsradikalen in einer Potsdamer Villa vom 25. November berichtet. An dem Treffen hatten unter anderem mehrere AfD-Politiker sowie einzelne Mitglieder der CDU und der sehr konservativen Werteunion teilgenommen.

Der frühere Kopf der rechtsextremen Identitären Bewegung in Österreich, Martin Sellner, hatte in Potsdam nach eigenen Angaben über « Remigration » gesprochen. Wenn Rechtsextremisten den Begriff verwenden, meinen sie in der Regel, dass eine grosse Zahl von Menschen ausländischer Herkunft das Land verlassen soll – auch unter Zwang.

Das sind übergeordnete, existenzielle Fragen. Sind das neuerdings Proteste für Werte, für eine lebenswerte Zukunft?

Demonstrationen sind immer mit Werten verbunden. 1999 hat man für eine lebenswerte Zukunft gegen die Gründung der Welthandelsorganisation in Seattle demonstriert. Danach wurde eine europäische globalisierungskritische Bewegung gegründet, wo es um einen fairen Welthandel – also um Werte – gehen sollte.

Die Bevölkerung ist mit den politischen Eliten unzufrieden.

Was aktuell in Deutschland entsteht, ist der Eindruck, dass die Parteien in der Regierung und in der Opposition, nicht mehr fähig sind, die Ansinnen der Bevölkerung aufzunehmen und die grossen Probleme zu lösen. Das macht diese Proteste so impulsiv und eindrücklich.

AfD verliert an Zuspruch

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Die AfD hat in einer bundesweiten Wahlumfrage in Deutschland an Zuspruch verloren. In der wöchentlichen Befragung des Meinungsforschungsinstituts Insa für die «Bild» rutscht die Partei im Vergleich zur Vorwoche von ihrem bisherigen Höchstwert von 23 Prozent auf 21.5 Prozent ab.

Sie bleibt aber nach der Union (30.5 Prozent) weiterhin die zweitbeliebteste Partei. Zuletzt hatte die AfD in dieser Umfrage über den Jahreswechsel leicht verloren (minus 0.5 Prozentpunkte). Insgesamt befindet sich die Partei in allen Umfragen seit Mitte 2022 in einem deutlichen Aufwärtstrend.

Rund 2000 Menschen füllten die Umfrage vom Freitag, 19. Januar bis Montag, 22. Januar aus.

Wird hier eine Kluft zwischen den «herrschenden Elite» und der Bevölkerung sichtbar?

Ja. In all diesen Protesten zeigt sich ein gewisses populistisches Moment in dem Sinne, dass die Bevölkerung mit den politischen Eliten unzufrieden ist, dass sie sich nicht vertreten und nicht gut regiert fühlt.

Es war kein Protest der radikalen Ränder.

Bei den jüngsten Demonstrationen waren nicht die «radikaleren Flügel» des politischen Spektrums beteiligt, sondern Leute aus der Mitte der Gesellschaft. Was sagt das über die Öffentlichkeit aus?

Ich war selbst auf einer der grössten Demonstrationen an diesem Wochenende in Hamburg. Die Demonstration war so gross, dass sie abgebrochen werden musste. Es war ein bunter Querschnitt der Gesellschaft. Die Demonstrationen zeigen zudem einen Ausbruch aus der Ohnmacht. Viele Menschen haben jahrelang den Aufstieg der AfD in Deutschland beobachtet und hatten den Eindruck, man kann nichts dagegen machen. Man hat sich passiv verhalten.

Bei den Demos am Wochenende konnte man erstmals diese Ohnmacht überwinden. Die Mitte ist aufgestanden. Es war kein Protest der radikalen Ränder, sondern ein Protest der Leute, die sich als demokratische Mitte begreifen und sich um die Fortexistenz der demokratischen Gesellschaft sorgen.

Das Gespräch führte Raphael Zehnder.

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Radio SRF 2 Kultur, Kultur-Aktualität, 22.1.2024, 17:20 Uhr ; 

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