Einmal von der Seite, einmal von oben. Der Kamerafokus bleibt an der glänzenden Himbeere, dann am braunen Mandelkrokant hängen. Beide Nebendarsteller machen sich gut auf der Bühne des Stars: Eine makellos geformte Kugel Pistazienmus. Die Wahl fällt auf die Seitenansicht und den Krokant-Zoom, das Foto geht an die Schwester.
Hunderte dieser Bilder sind im Telefonspeicher abgelegt. Manche schaffen es in die Instagram-Story, andere landen im Familienchat. So beliebig all diese Fotos vom Essen sind: Der Kommunikationsreflex dahinter ist urmenschlich. «Es geht darum, Erinnerung zu konservieren», sagt Marie Schröer, Professorin für Kultursemiotik an der Universität Potsdam. Sie forscht unter anderem zur Darstellung von Essen und Essenden.
Das Spiel zwischen Essen und Bildern beherrscht der Mensch schon lange. Objekt und Abbild brauchen einander. Um ihr Wissen weiterzugeben, zeichneten etwa die ersten Menschen Jagdszenen an Höhlenwände. Und heute ist japanisches Grünteepulver ausverkauft, weil Millionen von Menschen das Internet mit Matcha-Latte-Posts überfluten.
Pausenlos sind wir damit beschäftigt, uns mithilfe des leuchtenden Matchagrüns in ein interessantes Licht zu rücken. Ludwig Feuerbachs Diktum «Der Mensch ist, was er isst» erzählt uns dabei nicht unbedingt etwas Neues. Interessanter wäre es, zu überlegen: Was gewinnen und was verlieren wir, wenn sich unsere kulinarische Realität laufend verändert?
Essen und der Charakter
Zur Hand geht uns da das gerade erschienene Buch «Essen» der deutschen Bestsellerautorin Alina Bronsky. Der Essay ist eine Auftragsarbeit. Der Verlag befand, dass Speisen ein auffälliges Stilmittel in Bronskys Romanen seien. Die Autorin selbst überraschte das zunächst: «Ich dachte nie, dass Essensbilder ein wichtiges Thema für mich sind.» So dürfte es wohl vielen gehen. In der Buchrecherche fällt ihr dann aber auf, dass Essen indirekt viel Persönliches über Menschen erzählt.
Das wissen auch jene, die täglich an ihrem Bild in der Öffentlichkeit feilen. In «Politik auf dem Teller» etwa, einer SRF-Sommerserie aus dem Jahr 2023, entkorkt der Aargauer Thierry Burkhart (FDP) einen Wein für das Fernsehkochduell und kommentiert: «Kochen geht dann besser.» Grünen-Präsident Balthasar Glättli hat für sein Team die Kochschritte in eine Excel-Tabelle notiert und trägt sie als Befehle vor.
«Essen ist ein sehr nahbares und zugängliches Thema», sagt die Wissenschaftlerin Marie Schröer. Berühmte Menschen könnten sich dadurch sehr bodenständig präsentieren. Oder Erstaunliches offenlegen.
Die unbequeme Seite
Für eine noch präzisere Inszenierung eignet sich die Momentaufnahme auf Instagram und Tiktok: Geschmolzener Käse, aufgeknackte Austern, Sandwichquerschnitte – sie generieren Appetit, Lust und liefern ästhetischen Genuss. Das pure Vergnügen.
Gerade weil Foodporn eigentlich immer gut funktioniert, spielt Bronsky bewusst mit den unbequemen Gefühlen rund ums Essen: «Das Essen in meinen Büchern ist fast immer ein Problem, ein Mittel zum Zweck, ein Werkzeug der Manipulation», schreibt sie.
Unsere gesättigte Überflussgesellschaft konzentriert sich dagegen lieber auf Identitätsfragen. Essen muss vegan, gesund, klimaschonend, proteinreich sein. Was auf den Teller kommt, ist eine Lebenseinstellung. Diese Imagepflege zeigt mannigfaltig auf, wie Menschen ticken.
Tradwives: Politik im Zuckermantel
Forscherin Schröer hat sich zuletzt die Essensdarstellung bei sogenannten Tradwives (zu Deutsch «traditionelle Ehefrauen») angeschaut. Zu sehen sind perfekt frisierte Frauen in taillierten Kleidern, mit Schürze und einem breiten Lächeln, am Herd und mit Kind auf dem Arm. In den sozialen Medien präsentieren die glücklichen Hausfrauen mehrstöckige Geburtstagstorten und selbstgemachtes Sauerteigbrot.
Ein scheinbar friedliches und sorgenloses Leben verschleiert oftmals ideologische Inhalte: Finanzielle Abhängigkeit, veraltete Rollenbilder, gottgewollte Ordnung – all das wird nicht hinterfragt. «Die Essensbilder von Tradwives sind sehr politisch», meint Schröer.
Hat man während der Corona-Zeit noch aus Langeweile nach Bildern von Sauerteigbrot gesucht, schlägt der Algorithmus ausgehend von der Brotteig-Suche nun vermehrt Accounts von Tradwives vor. «In der Ernährungsweise und Ästhetik gibt es Schnittmengen, doch bei den Tradwives landet man schnell in einer Risikozone. Da kann ich nicht mehr sagen, das ist etwas Spielerisches», erklärt Schröer.
Reise in die Vergangenheit
Wer kocht zu welchem Zweck? Kochen gehört selbstredend allen. Doch seine bildhafte Inszenierung schreibt neue Geschichten, vermittelt Werte und Gefühle, die unseren Alltag prägen. Dabei tragen wir alle einen kulinarischen Lebenslauf, der viel über unsere Entwicklung verrät. Auf die Frage «Was ist das Gericht deiner Kindheit?» wissen nahezu alle eine Antwort.
Gehen diese Erinnerungen im allgegenwärtigen Performancedruck verloren? Nicht unbedingt, aber vielleicht die Zeit, sich ausführlich zu besinnen. Für ihren Essay hat sich Alina Bronsky nochmals eine Reise in ihre Vergangenheit gewährt: Als sie 13 Jahre alt ist, wandert sie mit ihren Eltern aus Russland nach Deutschland aus. Für ihr Grosswerden in der Bundesrepublik, ihre junge Mutterschaft, ihre russische Grossmutter und ihre deutschen Freunde findet sie viel Situationskomik.
Dabei dienen ihr Mahlzeiten und Speisen als Karikatur komplexer Gefühlslagen. Bronsky lernt sich durch das Buch nochmal besser kennen. Verschüttete Erinnerungen kehren zurück. Geschmäcker und Geschichten von Schokoküssen und «Grüner Sosse» entdeckt sie wieder. «Das hat mich etwas vollständiger gemacht», meint sie.
Der Madeleine-Effekt
Der französische Schriftsteller Marcel Proust (1871–1922) wusste, dass Erinnerungen vom Moment und Stimmung abhängen, in der sich der erinnernde Mensch befindet. Ein in Tee aufgelöstes Madeleine etwa löst in Proust starke Kindheitsgefühle aus. In seinem Jahrhundertroman «Auf der Suche nach der verlorenen Zeit» heisst es:
«Und im gleichen Augenblick, in dem dieser Schluck, mit dem Krümel des Kuchens vermischt, meinen Gaumen berührte, fuhr ich zusammen, gebannt durch das Aussergewöhnliche, das sich in mir vollzog. Eine freudige Erregung hatte mich durchströmt, völlig zusammenhanglos, ohne jeden Anhaltspunkt für ihre Ursache.»
Er beschrieb das Erlebnis über mehrere Seiten, heute heissen solche Sinneserfahrungen auch Proust-Effekt. Dass Riechen und Schmecken direkt ins Stammhirn führen, ist wissenschaftlich belegt. Daraus generierte Erinnerungen trügen weniger als die der Augen und Ohren, unsere Instagram-Sinne.
Essensbilder als Tagebuch und Kunstwerk
Gleichwohl katapultieren uns Bilder von Essen in die Vergangenheit, betont Schröer. Posten wir ein Bild, erinnern wir uns automatisch an Anlässe, Geschmäcker und Gemeinschaft. Letzteres sei auch eine Kraft digitaler Bilderwelten. «Tiktok und Instagram funktionieren als eigene Räume mit eigenen Communitys», sagt Schröer.
Die Brotbox füllen, Zutaten für ein Gericht arrangieren, zubereiten und kochen. All das ist Arbeit, die man oft nicht sieht. «Diese Communitys machen Sorgearbeit sichtbar. Für sie kann es heilsam sein, mit den Inhalten herauszugehen und Zuspruch zu bekommen», meint Schröer.
Fühlst du, was du isst?
Die eigenen Vorlieben, «guilty pleasures», Kochmühen und Dinner-Gemeinschaften einem virtuellen Publikum zu präsentieren, sich Likes und Herzchen abzuholen, kann den Genuss intensivieren und zu Nostalgie verhelfen. Es kann uns aber auch vom eigentlichen Esserlebnis entfremden. Dabei kann im proustschen Sinne etwas verloren gehen.
Allen literarischen Bedeutungsebenen zum Trotz bemängelt aber Schriftstellerin Bronsky: «Wir machen uns wahnsinnig viele Gedanken, vielleicht sollten wir das mal bewusst reduzieren und sagen: Jetzt mache ich mir einfach ein Butterbrot und esse.»