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Macht und Gewalt Was sagt die endlose Gewalt gegen Frauen über die Gesellschaft?

Femizid-Rekord in der Schweiz, monströse Vergewaltigungen in Frankreich: Was sagt diese Gewalt über unsere Gesellschaft? Und was kann man aus dem Fall Pelicot lernen? Man müsse Gleichheit statt Herrschaft erotisieren, fordert die französische Philosophin Manon Garcia.

Jeden Monat werden in der Schweiz Frauen ermordet, weil sie Frauen sind. Allein im ersten Halbjahr 2025 verloren 18 Frauen und Mädchen ihr Leben durch männliche Gewalt – mehr als in den meisten Jahren zuvor. Hinter diesen Taten stehen oft Jahre der Kontrolle, der Angst, des Missbrauchs, der systematischen Entwertung.

Die monströsen Verbrechen an Gisèle Pelicot, die von ihrem Ehemann über Jahre hinweg sediert, hindrapiert und Dutzenden Männern zur Vergewaltigung angeboten wurde, haben die Welt erschüttert. Das anschliessende Gerichtsverfahren im südfranzösischen Avignon avancierte zu einem aufsehenerregenden Prozess.

Angesichts der Abgründe männlicher Gewalt gelangte die französische Philosophin Manon Garcia gar zur existenziellen Frage: Kann man mit Männern leben? Und wenn ja, was muss sich ändern? Ihre Antwort: Ja, aber …

Frau in schwarzem Blazer mit hellem Hintergrund.
Legende: Manon Garcia zählt in Frankreich zu den einflussreichsten und meistgelesenen Philosophinnen ihrer Generation. Nach Stationen in Harvard und Yale ist sie aktuell als Professorin für Praktische Philosophie an der Freien Universität Berlin tätig. SRF

Eigentlich wollte Manon Garcia den Pelicot-Prozess im Dezember 2024 bloss zwei bis drei Tage lang mitverfolgen. Doch sie blieb, bis zum Schluss. Fasziniert von der Tatsache, dass sich hier die sexuelle Gewalt in ihrer ganzen Banalität und Hässlichkeit zeigte.

Es ging nicht um eine Frau, sagt sie, die auf dem Nachhauseweg von einem Nachtclub vergewaltigt, getötet und in Stücke geschnitten wurde. Nein, der Ehemann im eigenen Schlafzimmer und unzählige scheinbar unbescholtene Männer aus der Nachbarschaft nahmen sich einfach das, was sie wollten.

Das Skandalöse und das Normale hätten sich bei diesen Verbrechen verbunden und es sei etwas sichtbar geworden, was Feministinnen schon seit Jahrzehnten über die Realität sexueller Gewalt erzählen würden, so Garcia.

Männer und das Recht «darauf»

Was die Gewalt von Männern erklärt, seien kulturelle Vorstellungen von Männlichkeit – davon, was ein echter Mann ist, wie sich ein Mann verhalten muss: ein Bild von Macht und Dominanz. Bei sexueller Gewalt finde sich immer etwas in der Art von «Kraft meines Penis’ zeige ich, dass ich dominant bin». Auch bei einem Teil der Angeklagten, die sozial am wenigsten begünstigt sind, habe man diese Art Denkweise «Mindestens hier bin ich wirklich der Chef und nehme mir, was mir zusteht» gesehen.

Das Beängstigende an dieser Geschichte mit den 70 Männern sieht Garcia darin, dass man wohl an jedem beliebigen Ort im Handumdrehen 70 Männer finden würde, die bereit seien, die eigene Frau zu vergewaltigen.

Zur Zeit des Prozesses infiltrierte sich etwa ein Investigativ-Team des deutschen Fernsehens in eine Telegram-Gruppe von 70'000 Männern, die Rezepte für chemische Betäubungsmittel teilten und Fotos davon austauschten, wie sie ihre Partnerinnen vergewaltigen.

Im letzten Sommer entdeckte man in Italien eine Facebook-Gruppe namens «Mia Moglie» («Meine Frau»), in der Tausende italienische Männer Sexfotos ihrer Frauen austauschten und obszön kommentierten.

Fragwürdige Justiz

Schockiert zeigt sich Manon Garcia auch über die Befragungen der Täter vor Gericht. Einer der Richter hätte vier der Männer gefragt: «Was genau ist passiert? Warum hatten Sie keine Erektion? Das ist doch seltsam.» Aber zu keinem Zeitpunkt habe ein Richter die unzähligen anderen Männer gefragt, warum sie überhaupt eine Erektion hatten angesichts einer sedierten Frau.

Garcia fragt: «Wie kann die Justiz – vertreten durch diesen Mann, der aufgrund seiner Rolle als Stimme der Gesellschaft auftritt – davon ausgehen, dass so etwas überhaupt erregend ist?»

Für sie stellt sich ebenso die Frage, warum die Psychiatrie endlose Listen von sexuellen Störungen erstellt, in denen das Verlangen nach Vergewaltigung nicht vorkommt. Man sollte doch meinen, dass eine Vorliebe für Vergewaltigung eine Form sexueller Perversion darstellt. Aber anscheinend, so Garcia, betrachten die Psychiatrie und die Psychoanalyse historisch gesehen die Vorliebe für Vergewaltigung einfach als Teil des Mann-Seins.

Einerseits besage das Gesetz: Vergewaltigung ist verboten, es ist etwas sehr Schlimmes, während andererseits Vergewaltigung in einer ganzen Reihe von Darstellungen und Geschichten von Sexualität als normale Form männlicher Sexualität präsentiert werde.

Buchhinweise

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  • Manon Garcia: «Mit Männern leben – Überlegungen zum Pelicot-Prozess». Suhrkamp, 2025.
  • Manon Garcia: «Das Gespräch der Geschlechter – Eine Philosophie der Zustimmung». Suhrkamp, 2023.
  • Manon Garcia: «Wir werden nicht unterwürfig geboren – Wie das Patriarchat das Leben von Frauen bestimmt». Suhrkamp, 2021.

Jederzeit «vergewaltigbar»

Die US-amerikanische Philosophin Ann Cahill schrieb schon 2001 in «Rethinking Rape», dass die Erfahrung der Frauen jene eines «Vor-Opfers» einer Vergewaltigung sei. Es sei eine spezifisch weibliche Erfahrung, sich jederzeit als «vergewaltigbar» zu wissen. Mädchen und Frauen würden in dem Glauben erzogen, dass die Bedrohung ständig da ist und man keine andere Option hat, als sich darauf einzustellen.

Manon Garcia sagt: «Ich denke, gewisse Männer sind mit der Vorstellung aufgewachsen, dass sie ein Anrecht auf bestimmte Dinge haben, insbesondere auf sexuelle Dienstleistungen. Wenn man sie ihnen nicht freiwillig gibt, werden sie sich diese nehmen.»

In der Sphäre des Privaten gelte in diesen Fällen nicht die Herrschaft des Rechts, sondern der Mann herrsche über seine Familie wie ein König über seine Untertanen.

Es sei genau diese Vorstellung vom Mann als Oberhaupt der Familie gewesen, die die Angeklagten zu Aussagen gebracht hätte wie «Das ist ihr Ehemann, er macht mit ihr, was er will», oder «Der Ehemann hatte mir die Erlaubnis gegeben, für mich war das damit in Ordnung».

Hier finden Sie Hilfe bei sexueller Belästigung und Missbrauch

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Bei sexueller Belästigung und sexuellem Missbrauch stehen folgende Stellen zu Ihrer Unterstützung und Beratung zur Verfügung:

Die meisten dieser angeklagten Männer hätten tatsächlich gedacht, dass Dominique Pelicot über die Zustimmung seiner Frau entscheiden konnte. Dominique Pelicot selbst gab als Motiv und Rechtfertigung vor Gericht an, seine Frau sei das Gegenteil seiner Mutter gewesen: Kein Stück unterwürfig!

Wie weiter?

Manon Garcia plädiert mit ihrem Buch «Mit Männern leben» für ein starkes Miteinander von Frauen und Männern: «Interessiert euch für das Patriarchat und bekämpft es, selbst in den kleinsten Aspekten eures Lebens. Hört auf, den Männern um euch herum, die sich eurer Meinung nach unangemessen verhalten, Ausreden und Entschuldigungen zu liefern.»

Und sie macht sich stark für ein Erotisieren der Gleichheit statt der Herrschaft. Heisst: Weg von der Vorstellung, dass männliche Dominanz und weibliche Passivität «natürlich» oder «erotisch» seien. Also: Begehren nicht mehr mit Macht, sondern mit Gegenseitigkeit zu verknüpfen, Einvernehmlichkeit nicht nur als juristische Kategorie zu verstehen, sondern als Ausdruck einer gegenseitigen Anerkennung und Freiheit. Es geht darum, neue erotische Fantasien und Praktiken zu entwickeln, die nicht auf Dominanz und Unterwerfung basieren, sondern auf Respekt und Gleichheit.

Garcia sieht darin einen emanzipatorischen Weg, um aus patriarchalen Mustern auszubrechen. Sie fordert dazu auf, nicht nur gesellschaftliche Strukturen zu verändern, sondern auch die Vorstellungen von Lust, Begehren und Intimität zu hinterfragen und neu zu denken.

SRF 1, Sternstunde Philosophie, 19.10.2025, 11 Uhr;liea

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