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GNTM und Co. Reality-TV boomt – und wird braver

Mit dem Start der 19. Staffel von «Germany’s Next Topmodel» stellt sich die Frage: Wieso gefällt uns das? Wer Reality-TV schaut, will unterhalten werden – schämt sich aber meist ein wenig. Manche Shows nehmen die Kritik nun ernst – und zeigen sich zeitgemäss. Geht Trash-TV auch woke?

«Lieber die als ich», dachte ich damals, als ich als Teenie «Teen Mom» schaute. Behütet sass ich auf dem Sofa und bingte die MTV-Show mit den verzweifelten Ami-Moms: Früh ungewollt Mutter geworden struggelten sie sich durch den Stress, den andere Familienglück nennen.

Ich fand’s krass und – das begriff ich schon mit Zahnspange – irgendwie beschämend, so einen «shit» zu schauen.

Heute, mehr als 20 Jahre später, bin ich selbst Mutter und «Teen Mom» ist TV-Geschichte. Reality-TV ist jedoch geblieben – und für Millionen Menschen und mich Teil der sogenannten «Me-Time».  

Eine junge, blonde Frau sitzt neben ihrem Kleinkind. Sie sieht gestresst aus.
Legende: Müde Mama? 2009 lief die achte Staffel von «Teen Mom». Ein Dauerbrenner auf MTV. Reality-TV ist enorm erfolgreich und hat viele Gesichter: Dating-, Fashion-, Castingshows etc. Paramount

An Angebot mangelt es nicht. Ein Micro-Ausschnitt des Reality-Überangebots: Das «Dschungelcamp» wird 20, «Germany’s Next Topmodel» geht gerade in die 19. Staffel und die Kuppel-Show «Love is Blind» gehört zu den meistgesehenen Netflix-Serien überhaupt.

Bei Big Brother gab es diese Schlüssellochmomente, die man vorher nicht kannte.
Autor: Rainer Laux Fernsehproduzent

Alte Formate bleiben, neue kommen dazu. Auffallend dabei: Einige zeigen sich etwas braver. Doch blicken wir zuerst zurück.

Bravouröser Start mit Big Brother

Er schaut privat gerne Thriller: Rainer Laux produzierte bereits die erste «Big Brother»-Staffel für RTL 2. Das neue Format, das ursprünglich aus Holland kam, begeisterte ihn. Was dieses «neue Fernsehen» auslösen würde, ahnte er damals nicht. 

Rainer Laux

Fernsehproduzent

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Rainer Laux ist ein deutscher Fernsehproduzent. 2000 produzierte er für Endemol die erste «Big Brother»-Staffel. Noch heute ist er im Reality-TV-Business tätig: Er ist CEO der «Rainer Laux Productions GmbH» und Director Reality bei «Endemol Shine Germany». Zuletzt produzierte er Formate wie «Promi Big Brother», «Dating Naked Germany» und «Promis unter Palmen».

Das Konzept war simpel, aber so noch nie gesehen: Zehn Menschen in einem Container – 24/7 gefilmt von Kameras. Was aus heutiger Sicht mit Blick auf Hochglanzproduktionen roh und popelig wirkt, war damals revolutionär. 

«Es gab diese Schlüssellochmomente, die man vorher nicht kannte. Menschen beim Rasieren zuschauen? Das war früher privat.» Und es kam noch schärfer: Sex, Streit – und stundenlang Seelenstriptease.

Vor dem Logo von «Big Brother» steht eine Gruppe an Kandidatinnen und Kandidaten mit dem Moderator Oliver Geissen.
Legende: Bitte lächeln! Die Bewohner der ersten deutschen «Big Brother»-Staffel lebten auf 153 m2. Von links: Zlatko Trpkovski, Oliver Geissen und Aleksandra Bechtel (Moderatoren), John Milz, Andrea Singh und Jürgen Milski. IMAGO Images / Horst Galuschka

Gefiel eine Bewohnerin, durfte sie im Container bleiben. Eckte ein Kandidat an, musste er ausziehen – abgewählt vom Publikum. Was geht? Wer geht? «Big Brother» wurde schnell zum TV-Ereignis.

Behind the Scenes: Big Brother Schweiz

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Wo sind denn überall Kameras versteckt? Moderator Dani Fohrler führt die Zuschauerinnen und Zuschauer hinter die Kulissen von «Big Brother Schweiz». Am 3. September 2000 startete die erste Staffel hierzulande.

Manche Fans waren derart aus dem Häuschen, dass es sie sogar zum Container zog: «Standen beim ersten Auszug drei Fans vor dem Container, waren es beim vierten Auszug schon 15’000», erinnert sich Laux. «Big Brother» wurde zum Mega-Phänomen. Auch hierzulande. Unterhaltsam fand man’s – aber auch unter dem Niveau.

Verblödung droht

Die Vorwürfe, unter vielen: Voyeurismus, Vorzeigen von Menschen, aber auch Verblödung. Christine Lötscher, Professorin für Populäre Literaturen und Medien an der Universität Zürich, kennt diese Kritik sehr gut: «Jedes Mal in der Kulturgeschichte, wenn ein neues Genre auftaucht, fürchtet man, dass die Gesellschaft verblödet.»

Christine Lötscher

Professorin Universität Zürich

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Christine Lötscher ist Professorin für Populäre Literaturen und Medien an der Universität Zürich. In ihrer Forschung beschäftigt sie sich mit populären Genres in Literatur, Film, Fernsehen und digitalen Medien.

Das sei schon im 18. Jahrhundert so gewesen. Damals, mit dem Aufkommen der Populär- und Unterhaltungsliteratur, habe das Bildungsbürgertum schon befürchtet, dass die Menschheit geistig leide.  

«Das Verschlingen von Literatur und das Vergnügen dabei galt aus Sicht des Bildungsbürgertums als ungesund. Zu sinnlich, zu wenig intellektuell kontrolliert», so Lötscher.  

Einfach mal abschalten

Diese Zeit sei auch die Geburtsstunde dessen, was wir heute «guilty pleasure» nennen. Was übersetzt so viel heisst wie: Spass haben – und sich dabei ein bisschen schuldig fühlen.

Von diesem Gefühl, so Lötscher, lebe auch Reality-TV. «Wir leben in einer widersprüchlichen Welt», erklärt sie. «Einerseits machen wir uns viel Gedanken über die Welt und wie sie besser werden könnte. Andererseits denken wir manchmal einfach: ‹Ach, ist doch egal!›»

Aus einer Gender-Perspektive geht ‹GNTM› gar nicht. Trotzdem habe ich Spass beim Schauen.
Autor: Christine Lötscher Professorin an der Universität Zürich

Lötscher selbst ist ein gutes Beispiel. Eine Professorin, die sich unter anderem mit Feminismus beschäftigt und sich gerne mal «Germany’s Next Topmodel» gönnt: «Aus einer Gender-Perspektive geht ‹GNTM› gar nicht. Trotzdem habe ich Spass beim Schauen. Wahrscheinlich, weil es so problematisch ist.» 

Das ungute Gefühl

Seit Carmen Krämer Bürgermeisterin ist, hat sie kaum Zeit für «guilty pleasure», höchstens mal für «The Voice». Die Philosophin und Autorin der Dissertation «Menschenwürde und Reality TV: eine ethische Analyse», ist dieser Widerspruch bestens bekannt. In unterschiedlichen Bereichen: «Beispiel Umwelt: Wir kaufen die Avocado, obwohl wir wissen, dass sie von weit her eingeflogen ist.» Leichte Kost also – und trotzdem schwer verdaulich.

Carmen Krämer

Philosophin

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Die Philosophin Carmen Krämer war wissenschaftliche Mitarbeiterin und Dozentin an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, Deutschland, am Lehrstuhl für Praktische Philosophie. In ihrer Dissertation hat sie sich mit dem Thema Menschenwürde und Reality-TV auseinandergesetzt. Seit 2022 ist sie Bürgermeistern der deutschen Stadt Monschau.

Auf die Frage, woher dieses mulmige Gefühl beim Schauen sonst käme, ergänzt Krämer aus ethischer Perspektive: «Es könnte sein, dass Menschen ihre grundlegenden ethischen Werte verletzt sehen.» Wenn sie sich von Beleidigungen, Demütigungen oder Streitereien unterhalten fühlten, würden sie sich schämen. 

Mit Kant im Hinterkopf, so Krämer: Der Zuschauer oder die Zuschauerin sehe, wie er oder sie selbst nicht behandelt werden möchte. 

Und: «Der Zuschauerin würde – je nachdem, wie reflektiert sie sei – ausserdem bewusst: ‹Wenn ich das schaue, führt das zu mehr Einschaltquoten und zu mehr Sendungen, die Menschen in unschönen Situationen zeigen.›»

Echte Menschen, echtes Leid

«Natürlich schadet es nicht, wenn sich zwei streiten», gibt Reality-TV-Produzent Rainer Laux zu. Er, der zuletzt Formate wie «Dating Naked Germany», «Promi Big Brother» oder «The 50» produzierte, weiss: Drama unterhält. 

Unschöne Unterhaltung auf Kosten anderer? Laux wiegelt ab. Beim Konsum von Reality-TV handle es sich um ein empathisches Fernsehen: «Man kann mitfühlen, man kann mitleiden – vielleicht auch mit einem Menschen, den man nicht leiden kann.»  

Trotzdem: Der Vorwurf, Reality-TV sei ein Spiel mit Menschen, bleibt. Natürlich greife man als Produzent ins Geschehen ein – beispielsweise im Schnitt oder auch im Off-Kommentar – das seien gängige Stilmittel.  

Aber: «Wenn man sich als Mensch im Reality-TV so gibt, wie man wirklich ist, kann einem nichts passieren.» Einfach echt sein, ist es so simpel? 

«MusicStar – Die Revival-Show» am 30. März

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Ein junger Mann mit blonden Haaren und Jeansjacke singt in ein Mikrophon
Legende: Sebastian Bürgin aka «Baschi» bei der 3. MusicStar-Finalsendung am 19. Januar 2004. SRF / Christian Lanz

Nach 20 Jahren kehrt die Schweizer Castingshow «MusicStar» für ein einmaliges Wiedersehen zurück.

Für «MusicStar – Die Revival-Show» kommen am 30. März acht ehemalige MusicStars nochmals gemeinsam auf die Bühne - u. a. Baschi, Fabienne Louves, Carmen Fenk, Daniel Kandlbauer, Salomé Clausen. Wer gewinnt den Titel «MusicStar 2024»?

Mit dabei ist auch die legendäre Jury von damals: Arabella Kiesbauer, Detlef D! Soost und Chris von Rohr.

Philosophin Krämer würde Laux wohl widersprechen: «Menschen, die einen falschen Blick auf sich haben, können Opfer solcher Sendungen sein. Jemand denkt, er sei ein super Sänger – und der Produzent führt nur im Schilde, den Kandidaten blosszustellen. Das kann für den Kandidaten blamabel sein – und schlimme Folgen haben.»  

Alles für die Quote?

Fakt ist: Die Liste an Reality-TV-Kandidaten, die Produktionsbedingungen von Reality-Shows kritisieren, ist lang. Kein ganz unbekanntes, aber bezeichnendes Beispiel: «Germany’s Next Topmodel».  

«Ich bin damit nicht klargekommen: mental, körperlich, sozial auch nicht», beschreibt es etwa Simone Kowalski, Gewinnerin von «GNTM 2019», in einer Doku von «STRG_F Epic» (NDR/funk). Darin berichten ehemalige Kandidatinnen von üblen Umständen am Set.

Eine junge Frau mit blonden Locken läuft bei einer Show auf einer Bühne. Sie trägt ein freizügiges Schmetterlingsoutfit.
Legende: Höhenflug vor dem Fall: Simone Kowalski gewinnt 2019 bei «Germany’s Next Topmodel». Ihre Zeit bei der Reality-Show war eine Qual, wie sie sagt. KEYSTONE / DPA / ROLF VENNENBERND

Von Abschottung zur Aussenwelt, ausufernden Drehtagen und gezieltem Erzeugen von Konflikten zwischen Kandidatinnen ist die Rede.

Bei Kandidatin Kowalksi hatte dies schwere Konsequenzen: Sie hatte Suizidgedanken.  

«Wir waren immer die Loser»

Kritisch, ja gar kämpferisch zeigen sich auch Reality-Stars in den USA. Ein Gesicht dieses Kampfes ist Unternehmerin Bethenny Frenkel.

Frenkel, Ex-Teilnehmerin von «Real Housewives of Hollywood» – einer Show, in der Hobby-Hausfrauen zeigen, wie Leben auch luxuriös geht – forderte 2023 in einem Instagram-Post : «Hollywood streikt. Warum streikt Reality-TV nicht?»

Im Post, den sie während des Streiks der Drehbuchautoren in Hollywood teilte, ruft sie Reality-TV-Stars auf, sich gemeinsam zu wehren. Eine von vielen Forderungen: mehr Lohn und Tantiemen. «Wir waren immer die Loser», betont sie. «Reality-TV-Stars sollten eine Gewerkschaft gründen und fair behandelt werden.» 

Ein ähnlicher Fall: Jeremy Hartwell, der bei US-amerikanischen «Love is Blind» die Liebe suchte. Er gründete ein Netzwerk für Reality-TV-Stars mit dem Ziel, Teilnehmer rechtlich und mental zu unterstützen.  

Er selbst hatte 2023 gegen Netflix und die Produzenten der Dating-Show geklagt. Seine Vorwürfe: Isolation, Schlafmangel, schlechte Vergütung, wenig Essen und kein Wasser. Dafür Alkohol à gogo.

Saufen am Set – bald Geschichte? 

Stünde es um das Wohl der Reality-TV-Kandidaten nicht besser, gäben sie sich am Schirm weniger die Kante? Seit es Reality-TV gibt, wird gebechert – das weiss man nicht erst seit Hartwell. Doch die Kritik wird nun auch in gewissen Shows umgesetzt. 

Ein junger Mann im Anzug ist umringt von jungen Frauen in Abendkleidern mit Rosen in ihren Händen. Sie trinken Sekt.
Legende: Ein Schwipschen macht (zu) locker: Egal ob im amerikanischen Original oder in der Schweizer Version, beim «Bachelor» ist Alkohol allgegenwärtig. IMAGO Images / Everett Collection

Mehr alkoholfreien Nosecco statt Prosecco gibt’s jetzt beispielsweise im britischen «Love Island»: Nur noch zwei Gläser Alkohol pro Tag sind erlaubt. Der (Fast-)Verzicht auf Alkohol brachte den Machern jedoch eine nüchterne Bilanz: Hatte die Show bei der ersten Episode 2019 3.3 Millionen Zuschauer, waren es 2022 2.4 Millionen und 2023 nur noch 1.3 Millionen.

Weniger Alkohol, tiefere Einschaltquoten – dafür ein besseres Gewissen? «Es wäre dumm zu glauben, dass Reality-TV-Produzenten plötzlich Altruisten wären», schreibt eine Journalistin des Guardian.

Studie zu Alkohol im Reality-TV

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Forscher der Universität Nottingham haben untersucht, wie oft Alkohol und Tabak in britischen Shows wie «Geordie Shore» und «Love Island» gezeigt wird.

112 Folgen, die zwischen Januar und August 2018 im britischen Fernsehen zusehen waren, wurden analysiert. In allen Folgen wurde Alkohol gezeigt und in mehr als 42 Prozent der mehr als 5000 einminütigen Stichproben kam Alkohol vor.

Philosophin Carmen Krämer kann die eine Motivation der Produzenten nicht kennen, räumt aber ein: «Vielleicht reagiert man auf Kritik – oder eben auch auf gesellschaftliche Entwicklungen.» 

Heisst: Ist Alkohol in der Gesellschaft out, kommt er auch in Reality-TV-Formaten weniger vor. Das allmähliche Aus für den Alkohol – nur eine von vielen echten Trends, die sich im Reality-Genre widerspiegeln.  

Alle woke, oder was?

Kulturwissenschaftlerin Christine Lötscher ergänzt: «Eine Definition von Reality-TV besagt, dass Realität-TV geskriptete Realität ist. Die Vorstellung dieser Realität ist auch immer mit Idealen und Wünschen verbunden.»  

Diversität, Toleranz, Political Correctness – alles Werte und Anliegen, die eben auch in Reality-TV-Formate einfliessen.  

Ein Vorzeige-Format für Lötscher: «Princess Charming». In der ersten Dating-Show der Welt, in der Frau Frau sucht, merke man, so Lötscher, «dass da wirklich ein queeres Bewusstsein dahintersteht».

Die brave Reality-Show?

Reality-TV Produzent Rainer Laux zeigt sich als Realist: «Formate, die nicht mehr mit der Zeit gehen und hängen bleiben, will keiner mehr schauen. Dann werden sie auch nicht produziert.»

Diversität, betont er, sei ihm zwar auf persönlicher und professioneller Ebene sehr wichtig, aber grundsätzlich müsse eine Person ins Konzept einer geplanten Show passen.  

Zwei junge Frauen sitzen entspannt auf dem Boden und unterhalten sich
Legende: Die lesbische Datingshow «Princess Charming» setzt auf Queerness und Diversität. Sie wurde mit dem Deutschen Fernsehpreis ausgezeichnet. RTL

Ob er denn Lust hätte, ein ethisch einwandfreies Format zu produzieren? «Was heisst genau ethisch einwandfrei?», fragt Laux zu Recht. «Aber Krawall», so der TV-Produzent, «braucht es nicht, damit ein Format erfolgreich ist».  

Die Philosophin Christine Krämer würde sich gerne mit ihm über ein mögliches Format unterhalten. Ob ich es dann gerne schauen würde? Wahrscheinlich. Mit besserem Gewissen als bei «Teen Mom». Aber dann doch gerne mit Pro- statt Nosecco in der Hand.

Radio SRF 2, 100 Sekunden Wissen, 9.2.2024, 6:55 Uhr

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