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Jahrestag zum 7. Oktober Zwei Jahre später: Benötigt Gaza die grossen Gesten für Frieden?

Vor genau zwei Jahren verübte die radikal-islamistische Hamas ein Massaker an israelischen Zivilisten und verschleppte 255 Menschen nach Gaza. Es folgte ein Krieg mit über 65'000 palästinensischen Todesopfern. Die Fronten sind verhärtet, die Region traumatisiert und in Trümmern: Wie weiter?

Das Entsetzen über das Massaker vom 7. Oktober 2023 war immens. Die radikal-islamistische Terrororganisation Hamas brachte über 1200 Israeli um und nahm 255 als Geiseln. Auch Muriel Asseburg, Politologin und Nahostexpertin, war entsetzt. Doch ihr war schnell klar, dass die Antwort Israels «sehr massiv sein würde, weil dieser Angriff auf die israelische Zivilbevölkerung als Pogrom gegen Jüdinnen und Juden, als Vernichtungsfeldzug gelesen wurde».

Mittlerweile hat sich das Entsetzen über das Massaker in Empörung über die Vergeltung verwandelt. «Ich liebe meine jüdische Familie, aber rote Linien werden überschritten, Kinder werden abgeschlachtet, jeden einzelnen Tag. Ihr solltet euch schämen», schreibt Annie Lennox auf Instagram. Die schottische Musikerin und Ex-Frontfrau der Band Eurythmics gehört zu einer wachsenden Zahl von Kulturschaffenden, die ihre Stimme gegen das ihrer Ansicht nach übertriebene Vorgehen der israelischen Armee in Gaza erheben – und damit einen Nerv treffen: Hunderttausende demonstrierten am Wochenende in Amsterdam, Rom, Barcelona und Madrid für ein «freies Palästina».

 

Fast zwei Jahre später liegt Gaza in Trümmern. Zehntausende Zivilisten wurden getötet, verletzt oder werden vermisst. Unzählige weitere leben unter erbärmlichen Bedingungen inmitten der Trümmer oder in überfüllten Lagern, wie das Internationale Komitee vom Roten Kreuz IKRK und die Tel Aviv University übereinstimmend berichten. 70 Prozent der Gebäude sind nach UNO-Angaben zerstört. Die Bilder sind kaum auszuhalten.

Aber leider, so Marco Sassòli, seien die Bilder keineswegs einzigartig: «Denken Sie an Grosny in Tschetschenien, an Mariupol in der Ukraine, an Hamburg oder Coventry im Zweiten Weltkrieg. Das entschuldigt natürlich keinesfalls das Vorgehen Israels, aber es ist leider nichts Neues.»

Marco Sassòli ist Honorarprofessor für Völkerrecht an der Universität Genf und hat zu zahlreichen Konflikten weltweit gearbeitet. Im August dieses Jahres forderte er gemeinsam mit 30 weiteren Juristinnen und Juristen, dass sich die Schweiz aktiv dafür einsetzt, dass in Palästina ein Völkermord abgewendet werden kann.

Die Schweiz ist wie alle anderen UNO-Mitgliedstaaten zu dessen «Verhütung und Bestrafung verpflichtet» und muss die Einhaltung des humanitären Völkerrechts durchsetzen.

Empathieverbot in Israel

In Israel würden solche Initiativen ungehört verhallen, erzählt der in Zürich geborene israelische Politologe José Brunner. «In Israel gibt es ein Empathieverbot. Es gibt kein besseres Mittel, ein Gespräch abzubrechen, als zu sagen: Und was ist mit den Kindern in Gaza? Ich war immer Teil einer Minderheit, schon als ich in den 1970ern einer jüdisch-arabischen Studentenbewegung beitrat. Aber diese emotionale Gleichschaltung, die ist neu.»

Dazu komme, dass Israel nicht nur in Gaza Krieg führe, sondern auch in Syrien, im Libanon, im Iran und neulich gar in Katar. «Aus israelischer Sicht ist es ganz klar ein Nahostkrieg, der an sieben oder acht Fronten geführt wird. Und so wird das der Bevölkerung auch vermittelt. Das letzte Mal, als Israel versuchte, den Nahen Osten zu seinen Gunsten zu verändern, war in den 1980er-Jahren im Libanon.» Das sei am Ende schlecht ausgegangen, erklärt José Brunner.

Brutale Gewalt, brutale Politik

Nun sei Israel erneut daran, den Nahen Osten mit Gewalt neu zu gestalten, so der Politologe: «Israel fühlt sich seit dem 7. Oktober 2023 existenziell bedroht. Und wenn man sich existenziell bedroht fühlt, gibt man sich das Recht, jede mögliche Gewalt auszuüben. Dann interessiert einen das humanitäre Völkerrecht nicht besonders.»

Trümmer und leere Strassen, vereinzelt Menschen
Legende: Gaza liegt in Trümmern: Das menschenleere Viertel Al Remal während einer israelischen Militäroperation in Gaza-Stadt am 5. Oktober 2025. Laut den Vereinten Nationen wurden seit Beginn des Konflikts rund 90 Prozent der Bevölkerung – etwa 1.9 Millionen Menschen – innerhalb von Gaza aus ihrem Zuhause vertrieben. Keystone/EPA/MOHAMMED SABER

Das humanitäre Völkerrecht werde in Gaza denn auch mit Füssen getreten, so Marco Sassòli. «Bei Angriffen, selbst gegen militärische Ziele, gilt das Prinzip der Verhältnismässigkeit. Nun können wir zwar nicht wissen, ob es bei einem einzelnen Angriff eingehalten wurde, aber es ist undenkbar, dass es in jedem der Zehntausenden israelischen Angriffe, bei denen es Zehntausende zivile Opfer gab, ein so wichtiges militärisches Ziel gab, das so viele, in diesem überbevölkerten Küstenstreifen vorhersehbare zivile Opfer rechtfertigte.»

Israel habe Teile des Gazastreifens in Todeszonen verwandelt, und das sei etwas Grauenhaftes, ob man das nun genozidal nenne oder nicht, analysiert José Brunner. «Aber ich glaube nicht, dass das präzedenzlos ist, sondern das ist etwas, das man im globalen Süden ‹machen darf›, wenn man zum globalen Norden gehört, sich also das Recht dazu nimmt.» Frankreich und die USA hätten das beispielsweise in den 1960ern und 1970ern in Vietnam gemacht.

«Nord-Süd»-Konflikt

Israel als Teil des Nordens, des Westens, Mitglied der OECD, der Uefa, des Eurovision Song Contest auf der einen, Palästina als Teil «des sogenannten globalen Südens» auf der anderen Seite. Dieses Narrativ spielt jenen in die Hände, die Israel als koloniales Projekt von weissen europäischen Siedlern verstehen und bekämpfen, wie Muriel Asseburg einschätzt.

«Dieser Konflikt wird von manchen als Dekolonisierungskonflikt gesehen. Und er spaltet die Gesellschaften weltweit, weil jeder eine Meinung dazu hat und sich auf die eine oder andere Seite stellt.» Die weltweite Emotionalisierung spiegle jene, die vor Ort herrsche. «Wenn beide Seiten ihre Ansprüche religiös begründen und sagen, sie hätten einen exklusiven Anspruch auf dasselbe Territorium, dann kann man sehr schlecht darüber verhandeln.»

Aber man müsse verhandeln, auch wenn dies nach zwei Jahren Krieg schwieriger denn je werde, führt Muriel Asseburg weiter aus: Es gehe letztlich darum, eine Regelung zu finden, die beiden Völkern Selbstbestimmung, den palästinensischen Flüchtlingen ein Leben in Würde gewährt sowie Sicherheit für alle, die zwischen Jordanfluss und Mittelmeer leben. «Die Zweistaatenregelung wäre eine Möglichkeit, dies umzusetzen.»

Vager Friedensplan

Diese, so José Brunner, sei allerdings – nicht nur wegen des aktuellen Kriegs – sehr unrealistisch geworden. Denn eine solche Lösung würde voraussetzen, dass man den anderen «als gleichwertigen Menschen ansieht, als jemanden, der ebenfalls zwischen dem Jordan und dem Mittelmeer leben darf».

Diese Bereitschaft sehe er zurzeit nicht, erklärt Brunner, auch wenn der aktuell viel diskutierte Friedensplan des US-Präsidenten Donald Trump als 18. Punkt einen «interreligiösen Dialogprozess auf der Grundlage der Werte Toleranz und friedliche Koexistenz» einrichten will, Ziel sei es, «die Denkweisen und Narrative von Palästinensern und Israeli zu verändern, indem die Vorteile hervorgehoben werden, die sich aus dem Frieden ergeben können».

Dies sei – wie auch der Punkt über eine dereinstige Staatlichkeit Palästinas – sehr vage formuliert, sagt Muriel Asseburg: «Es ist zwar von einem politischen Horizont die Rede, aber wir wissen gar nicht, wie dieser Horizont konkret umgesetzt werden soll.»

Grosse Gesten gefragt

Gesten wären wichtig, sagt José Brunner. «Mohammed Bin Salman – der saudi-arabische Kronprinz – könnte in Jerusalem vor der Knesset sprechen, so wie 1977 der ägyptische Präsident Anwar Sadat.» Nach Sadats Besuch schlossen Israel und Ägypten Frieden, ein Vertrag, der immerhin seit 1978 anhält, so Brunner weiter. «Bin Salman könnte Frieden und Kooperation anbieten, aber gleichzeitig darauf bestehen, dass das nur geht, wenn es einen palästinensischen Staat gibt. Es wäre eine grosse Geste, aber Politik ist auch Theater.»

Schwarzweissfoto, drei Männer beim Unterschreiben von Dokumenten
Legende: In Camp David/Maryland unterzeichneten 1978 der ägyptische Präsident Anwar Sadat (links) und Israels Premier Menachem Begin (rechts) ein Abkommen unter Vermittlung von US-Präsident Jimmy Carter. Dieses sollte die Beziehungen zwischen den Staaten normalisieren. Keystone/AP/STR

In Nordirland ist der Friedensschluss gelungen, als 1998 der rund 40-jährige Bürgerkrieg mit dem Karfreitagsabkommen beendet wurde. Allerdings brauchte es dazu massiven Druck von aussen, wie der Friedens- und Konfliktforscher Neil Jarman 2018 erklärte: «In Nordirland waren die USA, die EU, Grossbritannien, Irland und die lokalen Parteien und Militärs involviert. Nur so hat es geklappt.»

Auch in Ex-Jugoslawien herrsche heute Frieden, oder zumindest kein Krieg mehr, meint Marco Sassòli abschliessend: «Das Abkommen von Dayton, das 1995 den föderalen, binationalen Staat Bosnien-Herzegowina vertraglich konstituierte, wird zum Beispiel oft kritisiert, weil es bis heute nicht zu einer wirklichen Versöhnung geführt hat. Aber es funktioniert insofern, dass die Leute sich nicht mehr umbringen. Und das wäre in Israel und Palästina doch schon ein erster Schritt.»

SRF 1, Sternstunde Philosophie, 5.10.2025, 11:00 Uhr;brus

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