Der Stopp der «Global Sumud»-Flottille durch israelische Streitkräfte sorgt international für Aufsehen. Die Schiffe, die Hilfsgüter und Aktivistinnen und Aktivisten nach Gaza bringen wollten, wurden rund 70 Seemeilen vor der Küste abgefangen. Israel beruft sich auf sein Recht zur Durchsetzung einer Seeblockade. Doch ist das völkerrechtlich haltbar?
SRF News: Welche Beweggründe gab Israel zum Stopp der Flottille an?
Anna Petrig: Israel beruft sich auf das traditionelle Seekriegsrecht. Nach diesem ist es erlaubt, eine Seeblockade zu verhängen. Israel hält seit der Machtübernahme der Hamas 2007 eine Blockade aufrecht. Diese wird als notwendig erachtet, um namentlich Waffenlieferungen an die Hamas zu unterbinden. Gemäss Seekriegsrecht dürfen zivile Schiffe, bei denen anzunehmen ist, dass sie eine rechtmässige Blockade durchbrechen, aufgebracht werden. Widersetzten sie sich der Aufbringung, dürfen sie nach traditioneller Sicht nach vorheriger Warnung sogar angegriffen werden.
Israel beruft sich zur Rechtfertigung seiner Seeblockade auf das San Remo Manual. Welche Kriterien müssen gemäss diesem für eine rechtmässige Blockade erfüllt sein?
Das San Remo Manual gibt es seit 1994. Doch schon zuvor musste eine Blockade nach dem alten Seekriegsrecht drei Voraussetzungen erfüllen. Sie muss erstens erklärt und allen kriegsführenden und neutralen Staaten mitgeteilt werden. Sie muss zweitens wirksam sein und drittens unparteiisch bei Schiffen aller Staaten angewandt werden.
Wenn eine Zivilbevölkerung unverhältnismässig in Mitleidenschaft gezogen wird, wie in Gaza, ist eine Blockade verboten.
Das San Remo Manual geht allerdings einen entscheidenden Schritt weiter. Es verbietet Blockaden, welche den ausschliesslichen Zweck haben, die Zivilbevölkerung auszuhungern oder ihr lebensnotwendige Güter vorzuenthalten. Dieses Verbot wird weitgehend anerkannt, setzt die Schwelle jedoch hoch, da eine Blockade nicht ausschliesslich diesen Zweck verfolgt. Nach dem San Remo Manual ist eine Blockade aber auch bereits dann verboten, wenn der Schaden für die Zivilbevölkerung unverhältnismässig gross ist im Vergleich zum militärischen Vorteil, der durch die Blockade erzielt wird. Dieses Verbot wird aber von einigen Staaten nicht anerkannt.
Mit welchen Argumenten widersprechen internationale Juristinnen und Juristen sowie Organisationen der Darstellung Israels?
Sie argumentieren zum einen, dass die Blockade verboten sei und stützen sich auf die eben genannten Regeln. Zum andern berufen sie sich darauf, dass das moderne Seekriegsrecht den freien Durchgang von humanitären und medizinischen Gütern erlaubt, sofern die Zivilbevölkerung des blockierten Gebiets unzureichend mit Nahrungsmitteln und Medikamenten versorgt ist. Und dies ist im Gaza-Streifen der Fall.
Die Ausnahme im San Remo Manual deckt einzig Schiffe ab, deren primärer Zweck die Lieferung von Hilfsgütern ist und nicht Protest zu üben.
Wie bewerten Sie die Blockade aus einer völkerrechtlichen Perspektive?
Einige Staaten verhaften zwar in einem traditionellen Seekriegsrecht. Sie stellen aber eine Minderheit dar. Das San Remo Manual enthält meines Erachtens eine ausgewogene Regel. Es erlaubt die Blockade – aber nicht ohne Grenzen. Wenn eine Zivilbevölkerung unverhältnismässig in Mitleidenschaft gezogen wird, wie in Gaza, ist eine Blockade verboten. Ausserdem müssen humanitäre Güter in Situationen, wie der vorliegenden, durchgelassen werden. Diese Ausnahme deckt allerdings einzig Schiffe ab, deren primärer Zweck die Lieferung von Hilfsgütern ist und nicht Protest zu üben oder die Aufmerksamkeit der internationalen Gemeinschaft auf eine Kriegssituation zu ziehen. Hier gilt es, den Einzelfall zu betrachten.
Das Gespräch führte Lea Stadelmann.