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Lob des Sommers Der Strand als Ideal

Warum im Sommer am Meer geradezu paradiesische Zustände herrschen? Philipp Tingler denkt darüber nach, im ersten Teil der Sommerserie: «Lob des Sommers» – sommerliche Themen aus philosophischer Perspektive betrachtet.

Ich liebe den Strand. Wenn ich den Strand betrete, fühle ich mich wie ein Astronaut, der im Begriff ist, seinen Flaggenmast in einen frisch eroberten Planeten zu rammen.

Philipp Tingler

Philipp Tingler

Schriftsteller und Philosoph

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Philipp Tingler ist Schriftsteller und Philosoph. Er promovierte über Thomas Mann und den Transzendentalen Idealismus und bewegt sich im Kritikerteam des SRF-Literaturclub mit der gleichen gewinnenden Kompetenz wie unter den Gästen von Donatellas Gartenparty zur Fashion Week.

Webserie «Steiner und Tingler»

Die im gleissenden Sonnenlicht vor mir liegenden Gestade des Meeres sind so sauber wie eine blank gescheuerte Klinge, als sei von der Konditionierung durch die Zivilisation nichts mehr übrig. Bis auf die Liegestühle natürlich.

Wir mieten zwei, und einen Sonnenschirm, und dann liegen wir dort und sonnen uns, und zwischendurch gehen wir ins Wasser oder an die kleine Bar für Sandwich-Eis, Espresso und Perrier mit Eis und Zitrone. Und dann laufen wir ein wenig, an der Wasserlinie, im tosenden Anprall der Wogen, denn beim Laufen wird man am zweitbesten braun (am besten beim Volleyballspielen, aber wir sind ja nicht verrückt).

Worauf wir wiederum ein bisschen liegen, und ich blättere ein wenig in der Sondernummer einer spanischen Revolverblattes namens «Aarg» und zwischendurch konstatiere ich die Körperformen anderer Leute: Ectomorph, mesomorph, endomorph; letzterer Konstitutionstyp wurde von Hegel auch als «Bierwirtsphysiognomie» bezeichnet. Übrigens ist es interessant, dass man sich bestimmte Philosophen einfach nicht am Strand vorstellen kann. Zum Beispiel Hegel. Oder Heidegger. Aarg.

Der Strand ist Sand, Zerstreuung

Ich liebe den Strand. Der Strand ist Präsenz. Stehende Zeit, bewegliche Schatten. Der Strand ist, quasi, metaphysisch gesprochen: permanente Gegenwart. Zugleich transzendiert er diese. Der Strand ist Sand, Zerstreuung. Zugleich transzendiert er diese. Damit hat er, philosophisch gesehen, wesentliche Eigenschaften eines Paradieses.

Auch die dritte Eigenschaft: Nacktheit. «Nacktheit ist ein Zeichen von Unterwerfung», hat Germaine Greer festgestellt, aber das gilt natürlich nicht, wenn alle mehr oder weniger nackt sind.

Lob des Sommers

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Es ist Sommer. Sommer kann so vieles sein. Was bedeutet er für Philosophen? Im Juli und August blicken wir auf sommerliche Themen, aus philosophischer Perspektive.

Der naive Betrachter möge denken, man könne den nackten spätmodernen Menschen keiner sozioökonomischen Kohorte mehr zuordnen, doch weit gefehlt, die Zuordnung ist nicht nur möglich, sondern funktioniert sogar mutmasslich noch präziser als vor ein paar Dekaden, weil die Methoden zur Körperformung und -markierung zugenommen haben, welche die Leute selbst in Anspruch nehmen, etwa indem sie Beschriftungen anbringen, spätmodern «Tattoo» genannt.

«Beauty-Standard Denialism»

Apropos: Wissen Sie, was «Beauty-Standard Denialism» ist, oder kurz: BSD? Folgendes: Die kulturell allgegenwärtige Verleugnung des Umstandes, dass die Ansprüche an und die Standards für körperliche Attraktivität höher und strikter sind als jemals zuvor in der Zivilisationsgeschichte.

So stand es neulich in der «New York Times» zu lesen, angelegentlich einer Besprechung des neuen Amy-Schumer-Films «I Feel Pretty». Ach, Amy Schumer! Ich finde ja, Amy Schumer sieht aus wie die Schwester von Will Ferrell, aber irgendwie scheint niemand ausser mir das festzustellen.

Verbesserungen nicht ausgeschlossen

Fest hingegen steht: Wenn man an den Strand geht, kann man dreierlei bemerken: 1. Viele Menschen scheinen mit den angeblich strikter werden Körpernormen ganz gut zurechtzukommen. Jedenfalls hat man, wenn man sie ansieht, nicht das Gefühl, sie würden sich ihr Leben davon diktieren lassen.

2. Die Extreme nehmen allerdings zu. Sowohl die extrem gestalteten Körper, als Projekte verdinglicht von ihren Besitzern, als auch die extrem vernachlässigten Körper, ebenfalls objektiviert von ihren Besitzern, allerdings in einem Akt der Entfremdung.

3. Wenn alle alle a priori gelten lassen, erfüllt der Strand die Voraussetzungen für einen idealen Ort. Das wiederum schliesst ja Verbesserungen nicht aus.

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