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Nach Missbrauchsstudie Gehen oder bleiben? Katholische Gläubige im Zwiespalt

Nachdem über 1'000 Missbrauchsfälle innerhalb der römisch-katholischen Kirche in der Schweiz publik wurden, sind die Austrittszahlen sprunghaft gestiegen. Besonders für aktive Gemeindemitglieder keine einfache Entscheidung.

Teil einer Institution zu sein, die Frauen systematisch diskriminiere, das sei schon «absurd», sagt Elke Kreiselmeyer. Sie ist römisch-katholische Gemeindeleiterin in Baselland.

Sie frage sich manchmal selbst, ob es vertretbar sei, als «Frau, Feministin und Bürgerin eines demokratischen Landes» daran mitzuwirken, dass diese Organisation weiter «besteht, diskriminiert und missbraucht».

Gesprächsthema Nummer eins

Elke Kreiselmeyer kenne einige, die nicht mehr dabei sind. Kollegen, die ihren Partner nicht mehr verstecken wollten und deshalb ihre religiöse Heimat aufgaben.

Aktuelle Austrittszahlen der römisch-katholischen Kirche

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Die Kantonalkirchen Aargau, Zürich und Basel-Stadt haben die Austrittszahlen bei den Pfarreien und Kirchgemeinden abgefragt:

  • Im Aargau sind im September 1'198 Menschen aus der römisch-katholischen Kirche ausgetreten. Im Vorjahr waren es im selben Zeitraum 270. Es gab also einen Anstieg um das Vierfache. In Städten waren die Zahlen deutlich höher als auf dem Land.
  • Im Kanton Zürich haben über 3'000 Menschen zwischen dem 12. und 30. September 2023 der römisch-katholischen Kirche den Rücken gekehrt und sind ausgetreten. Im Vorjahr waren im gesamten Jahr 7'222 Personen ausgetreten.
  • In Basel-Stadt sind im September 174 Personen ausgetreten, gegenüber durchschnittlich 50 Austritten pro Monat.
  • In der Stadt Luzern verzeichnete die katholische Kirche zwischen dem 12. September und 11. Oktober rund 440 Austritte. In der Vorjahresperiode war es noch 60.

Weitere römisch-katholische Kantonalkirchen haben die Zahlen bei den Gemeinden noch nicht abgefragt oder diese noch nicht mitgeteilt.

Die Frage nach dem Austritt sei virulent, seitdem bekannt wurde, dass es auch in der Schweiz so viele Missbrauchsfälle und systematische Vertuschungen in der katholischen Kirche gegeben habe. Sie spreche derzeit eigentlich in jeder kirchlichen Gruppe darüber, so die Gemeindeleiterin.

Kirchenbänke mit ein paar wenigen Personen, die darin sitzen
Legende: Im Spannungsfeld zwischen Sinnstiftung und Wut auf institutionelles Versagen. Auch Menschen, die sich kirchlich engagieren, hadern mit «ihrer» Kirche. KEYSTONE / ANTHONY ANEX

Dabei erlebe sie die Liturgie der römisch-katholischen Kirche als Element, das Menschen beheimate, sie sei verbindend über den Globus hinweg. Man könne darin «verschwinden», abtauchen und wieder auftauchen wie bei einem Fluss und so ihre «grosse meditative, spirituelle Kraft» erleben.

Über die Gemeindeleiterinnen in der Schweiz

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Dass es in der Schweiz das Modell der Gemeindeleitenden innerhalb der römisch-katholischen Kirche gibt, hat mit der Öffnung der Kirche nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil zu tun.

1972 veröffentlichte Basel als erstes Bistum Richtlinien zur Anstellung von sogenannten Laientheologen.

1974 wurde Maria Klemm-Herbers als erste Frau als Laientheologin im Bistum Basel angestellt. 1978 wurde die Berufsbezeichnung Laientheologe zu Pastoralassistent geändert. Die erste Frau, die in der Schweiz die Stelle eines Pfarrers übernahm, war 1983 Rita Bausch. Die Bezeichnung «Gemeindeleiter/in» gab es zu der Zeit noch nicht: diese wurde offiziell erst 1992 eingeführt.

Die Geschichte der Gemeindeleiterinnen in der Schweiz – ein Spezifikum, das es so in anderen Ländern nicht gibt – hat Nadja Waibel in ihrer Dissertation untersucht.

Aktive Mitglieder zweifeln an «ihrer» Kirche

Silvia Patscheider ist seit über 50 Jahren in verschiedenen Gremien und Initiativen römisch-katholischer Kirchengemeinden aktiv. Sie gestaltet Gottesdienste, Weltgebetstage, für die Anliegen der Frauen pilgerte sie nach Rom und protestierte gegen erzkonservative Bischöfe.

Eine alte Frau mit weissen, kurzen Haaren und Brille sitzt in einer Kirche und lacht.
Legende: Silvia Patscheider (71) aus Oberwinterhur fühlt sich in der römisch-katholischen Kirche zuhause. Anders als Menschen, die keinen Bezug zur Kirche haben und jetzt zunehmend austreten, bleibt sie vorerst: So könne sie etwas bewirken. SRF / Dorothee Adrian

Ihr Engagement ist und war immer wieder auch ein «Trotzdem». Sie sei so lange dabei geblieben, weil sie immer Möglichkeiten und Spielräume gehabt habe, mitzugestalten.

Zurzeit hadert sie wieder mehr mit ihrer Kirche. Auf die aktuelle Studie angesprochen, sagt sie, sie habe «wütend und hilflos» reagiert. Sie habe schon überlegt, zu den Reformierten zu wechseln. Aber das fühle sich nicht nach Heimat an.

Verbundenheit bleibt

Wie Elke Kreiselmeyer empfindet auch Silvia Patscheider nach wie vor eine Verbundenheit zu ihrer Kirche, das drücke sich vor allem in kleinen beglückenden Moment aus. Zum Beispiel während eines speziellen, von Ehrenamtlichen geleiteten Gottesdienst in dem ein Trio Akkordeon, Geige und Flöte spielte. Plötzlich hätten die Menschen sich angeschaut, seien aufgestanden und hätten getanzt, mitten in der Kirche.

Eine religiös geschmückte Ecke.
Legende: Die «Lebensecke» in der Oberwinterthurer Kirche St. Marien: Wenn jemand geboren wird oder stirbt, werden dort Name und Datum auf ein kleines Schild geschrieben. SRF

Auch die von ihr mit initiierte und von einer Künstlerin gestaltete Lebensecke bereite ihr nach wie vor Freude. Während des Gottesdienstes werden Namen von Neugeborenen und Verstorbenen vorgelesen und die Klangschale ertönt. Das sei oftmals «ein ganz dichter Moment», erzählt Silvia Patscheider.

Die Gretchenfrage

Die römisch-katholische Kirche sei eben beides, sind sich die beiden Frauen einig: Ein Ort, an dem Menschen das ganze Leben miteinander feiern und teilen. Eine Möglichkeit, sich zu verbinden, vor Ort und weltweit.

Aber auch eine Institution, die sie an vielen Punkten als starr und verhindernd erleben, als ausgrenzend und diskriminierend. Eine Organisation, die jahrzehntelang Täter statt Opfer geschützt hat. Gläubige wie Silvia Patscheider fragen sich deshalb: Soll ich bleiben oder gehen?

Vorerst will sie aber bleiben, denn: «Wenn ich drinbleibe, kann ich noch etwas machen. Wenn ich austrete, ist gar nichts mehr möglich.»

Radio SRF2 Kultur, Kontext, 17.10.2023, 09:05 Uhr

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