Zum Inhalt springen

Putin, Trump und Co. Wieso wir Lügenbaronen aufs Maul schauen sollten

Perfide Methoden entlarvt: Die Slawistin Sylvia Sasse zeigt auf, wie Demokratiefeinde die Realität auf den Kopf stellen.

«Je grösser die Lüge, desto mehr Menschen folgen ihr.» Dieser Adolf Hitler zugeschriebene Ausspruch scheint gerade heute wieder brisant: Lügen in der Politik haben Konjunktur. Und zwar nicht Lügen, die lediglich etwas Falsches behaupten. Sondern Lügen, die Tatsachen als Lügen deklarieren – und im Gegenzug Lügen zur Wahrheit erklären.

Legitimieren durch Verdrehen

Aktuelle Beispiele gibt es zahllose. Als Klassiker gelten die Aussagen von Wladimir Putin beim russischen Überfall auf die Ukraine am 24. Februar 2022: Russland, so Putin, eile den «Volksrepubliken» im Donbass zu Hilfe.

Es gelte, die Menschen zu schützen, die dort seit Jahren unter «Missbrauch und Völkermord durch das Kiewer Regime» litten, das aus «Faschisten» bestehe. Eine wahrlich legendäre Darstellung, eine Umkehrung der Fakten, die spektakulärer kaum sein könne.

Ein Mann in Anzug und Krawatte streckt einen Zeigfinger hoch.
Legende: Notorischen Verkehrer von Fakten: Wladimir Putin an einer Konferenz im Kreml, Dezember 2022. Keystone / SERGEY GUNEYEV

«Russland agiert zunehmend faschistisch. Indem Putin den Krieg ausgerechnet mit ‹Entnazifizierung› rechtfertigt, führt er der russischen Bevölkerung eine Welt vor, die völlig verkehrt ist. Mit dieser Verkehrung ins Gegenteil soll der Krieg legitimiert werden», sagt Sylvia Sasse. Sie ist Professorin für Slawische Literaturwissenschaft an der Universität Zürich und hat dieses Jahr einen Essay zum Thema verfasst.

Buchhinweis

Box aufklappen Box zuklappen

Sylvia Sasse: «Verkehrungen ins Gegenteil. Über Subversion als Machttechnik.» Matthes und Seitz, 2023.

Verkehrungen gibt es nicht nur in der russischen Gesellschaft. Sie ziehen längst grössere Kreise. Viktor Orban in Ungarn, Boris Johnson in Grossbritannien oder jüngst Vertreter der Terrororganisation Hamas – sie alle bedienen sich der Verkehrungen.

Die Lüge auf dem Vormarsch

Hamas-Extremisten beispielsweise behaupten inständig, bei ihrem Überfall auf Israel im Oktober keine israelischen Zivilisten, sondern ausschliesslich Soldaten attackiert zu haben. Die vielen Filme, welche Hamas-Extremisten selbst verbreiten, beweisen, dass gerade die wehrlose Zivilbevölkerung ein Ziel war.

Zu den notorischen Verkehrern gehört auch Donald Trump. Als er im vergangenen April in 34 Punkten des massiven Betrugs angeklagt wurde, gab er zu Protokoll: «Das einzige Verbrechen», für das er angeklagt werde, würde darin bestehen, dass er versucht habe, «die Nation vor denjenigen zu schützen, die sie zu zerstören versuchen».

Diese Aussage ist laut Sylvia Sasse «ein Schulbeispiel» für Verkehrung: «Trump, der selbst angeklagt ist wegen Verbrechen gegen die Institutionen und gegen die Demokratie, unterstellt seinen Gegnern, dass sie eben diese Verbrechen im Schilde führen.» Opfer und Täter werden vertauscht. Dies gehört zur Mechanik vieler Verkehrungen.

Aber es geht nicht nur darum, die Realität auf den Kopf zu stellen. Verkehrer vereinnahmen oft auch die Sprache ihrer Gegner. Anschauungsunterricht bietet erneut Donald Trump.

Sprache der Gegner an sich reissen

Noch als Präsident sagte er am 4. Juli 2020 in einer Rede gegen die zahlreichen Demonstrationen der «Black Lives Matter»-Bewegung im Nachgang zum Mord an George Floyd: «Wir werden uns nicht tyrannisieren lassen, wir werden uns nicht erniedrigen lassen, und wir werden uns nicht von schlechten, bösen Menschen einschüchtern lassen.»

Diese rebellische Rhetorik wäre eher den Demonstrierenden zuzutrauen und nicht dem Vertreter des Establishments. Trump jedoch hat mit seiner Wortwahl die Sprache seiner Gegner usurpiert. «Er gibt sich damit den Nimbus des Oppositionellen und Dissidenten», sagt Sylvia Sasse.

Mit seiner Wortwahl macht sich Trump zum vermeintlichen Advokaten der Meinungsfreiheit, die es gegen die Demonstrierenden zu verteidigen gelte. In Tat und Wahrheit sind gerade sie es, die von diesem Grundrecht Gebrauch machen, dadurch Trump gefährlich werden könnten und deshalb mundtot gemacht werden sollen.

Das Böse im Gegenüber

Verkehrungen verdrehen also Fakten und vereinnahmen die Sprache des Feindes. Hinzu kommt gemäss Sylvia Sasse oft etwas Drittes: die Projektion.

«Man unterstellt den Hass, den man gegen den anderen hegt, eben diesem anderen. Er hasst mich. Und das gibt mir das Recht, mich zu verteidigen.»

Nicht von ungefähr verbreiten die russischen Medien intensiv Meldungen, die angeblich beweisen, wie sehr der Westen Russland hasst. Dies wiederum befeuert die verkehrte Darstellung der Regierung, man betreibe in der Ukraine lediglich Selbstverteidigung.

In welchem Zusammenhang und in welchem Gewand Verkehrungen ins Gegenteil auch immer auftreten, das Ziel sei im Grunde immer dasselbe, sagt Sylvia Sasse: «Sie sind ein Mittel, um die Menschen zu täuschen und sie in ihrer Urteilskraft zu verunsichern, damit sie nicht mehr wissen, was sie glauben sollen.»

Dahinter stecke fast immer die Absicht, machtpolitische Ziele durchzusetzen, für die sich sonst zu wenig Unterstützung finden liesse. Die Historie bietet diesbezüglich viele Beispiele.

Eine verkehrte Welt inszenieren

So stellte Hitler beim Angriff auf Polen im September 1939 die Realität vollkommen auf den Kopf, als er behauptete, Polen habe das Deutsche Reich angegriffen, und nun müsse «zurückgeschossen» werden. Es war Hitlers – durchschaubarer – Versuch, die Entfesselung des Zweiten Weltkriegs zu legitimieren.

Oder der sowjetische Diktator Josef Stalin: Ihm gelang es, in den sogenannten Moskauer Schauprozessen zwischen 1936 und 1938 eine vollkommen verkehrte Welt zu inszenieren, um politische Gegner dem Henker überstellen zu können.

Stalin zwang die Opfer mit Folter und psychologischem Druck, vor der Öffentlichkeit abstruseste Geständnisse abzulegen: Sie seien Verräter, Saboteure, Mörder – und hätten den Tod verdient. Stalin wurde nicht nur gefährliche Gegner los, sondern vermochte sich, als starker Beschützer des Sowjetstaats zu inszenieren.

Mit medialer Unterstützung

Verkehrungen gedeihen nur in medial abgeschlossenen Räumen. Etwa in autokratischen Systemen wie dem heutigen Russland, wo die öffentliche Kritik an der Regierung mit drakonischen Strafen belegt ist. Anders verhält es sich in Demokratien, wo Pressefreiheit herrscht.

Hier fallen die Lügen vor allem bei denjenigen Menschen auf fruchtbaren Boden, die sich selbst in eine «Bubble» begeben haben. «In den USA kreiert der TV-Sender Fox News eine verkehrte Welt», sagt Sylvia Sasse. «Die Hälfte der Bevölkerung lebt gedanklich in einem Raum, in dem die Fakten mit der Lüge vertauscht sind.»

Weshalb jedoch begeben sich Menschen freiwillig in verkehrte Welten? Darüber lässt sich nur spekulieren. Hängt es damit zusammen, dass Verkehrungen oft eine vermeintlich wohlgeordnete Welt bieten, wo Schwarz und Weiss klar ist?

Oder sind Verkehrungen gerade in autokratischen Systemen wie Russland für Menschen deshalb attraktiv, weil sie – wie Sylvia Sasse sagt – «die Menschen auch davon entlasten, gegen das Unrecht aufzubegehren»?

Es braucht eine Sensibilisierung

Keine Frage: Verkehrungen ins Gegenteil sind für Gesellschaften, die auf Rationalität und offenen politischen Diskurs bauen, eine ernste Gefahr. Allerdings sei man diesem Machtmittel nicht schutzlos ausgeliefert, sagt Sylvia Sasse.

Entscheidend sei zum einen ein Angebot an Medien, die der Ausgewogenheit und Wahrhaftigkeit verpflichtet seien. Zum anderen bedürfe es vermehrter Sensibilisierung: Verkehrungen können nur so lange ihre toxische Wirkung entfalten, als sie nicht von einer Mehrheit der Menschen durchschaut würden.

Will heissen: Das beste Mittel im Kampf gegen lügenhafte Verkehrungen besteht darin, ihre Mechanik zu studieren und zu durchschauen – und zu begreifen, was ihr Ziel ist: autokratische Macht und Terror.

Wöchentlich frischer Lesestoff im Literatur-Newsletter

Box aufklappen Box zuklappen

Der Literatur-Newsletter bietet die perfekte Inspiration für das nächste Buch. Ausserdem wird jede Woche eine Schweizer Schriftstellerin oder ein Schweizer Schriftsteller in den Fokus gerückt. Newsletter jetzt abonnieren.

SRF 1, Tagesschau, 1.12.2023, 18:00 Uhr

Meistgelesene Artikel