«Das kann doch nicht wahr sein, bin ich wirklich einsam?» Paolo Sferrazzo erlebt, was viele Eltern nach der Geburt fühlen: Einsamkeit, obwohl sie von Liebe umgeben sind. Auch Melanie Meier hat nach der Geburt einsame Momente. Wie kann das sein?
Vor der Geburt ihres Sohns war Melanie Meier eine unternehmenslustige Frau. Sie engagierte sich in einem Verein, übte einen Job aus, den sie liebte. Ihre Freundinnen leben an unterschiedlichen Orten und sie nahm sich gerne die Zeit, sie zu treffen.
Das unerwartete Paradox
Als sie mit 38 Jahren Mutter wurde, sieht von aussen alles ideal aus. Melanie Meier und ihr Mann unterstützen sich nach der Geburt gegenseitig, das Umfeld besucht sie und packt mit an. Und meistens ist sie glücklich. Sie geniesst die gemeinsame Zeit mit ihrem Sohn. Melanie Meiers Einsamkeit sei nicht konstant gewesen. Sie war punktuell.
Ich fühlte mich verwirrt und leer.
Ein Gefühl, das sie kalt erwischt: «Ich habe bei Einsamkeit an eine alte Person gedacht, die allein in ihrer Wohnung ist. An eine Lebensform, bei der man kein Umfeld hat.» Melanie Meier ist gerne Mutter, die Einsamkeit irritiert sie zu Beginn: «Ich fühlte mich verwirrt und leer. Ich konnte das Gefühl nicht greifen.»
Im ersten Jahr lässt sich ihr Sohn nur beruhigen, wenn er in der Trage an der Brust getragen wird. Sie ist oft erschöpft und hat keine Energie, nach draussen zu gehen. Es wird schwieriger, ihre Freundinnen zu treffen. Nachts steht sie manchmal in der Küche vor dem rauschenden Dampfabzug und wartet, bis ihr Kind einschläft. In diesen Momenten habe sie einfach funktioniert.
Die Eltern sprechen die Einsamkeit nie von sich aus an.
Dass sie einsam ist, realisiert sie erst mit Abstand. Ihr fehlten schlicht die Worte für das, was sie im ersten Jahr empfand. Und damit ist sie nicht allein.
Das stille Leiden
Psychotherapeutin Simona Palm begleitet Frauen und Eltern bei Fragen rund um Elternschaft. Sie sagt: «Die Eltern leiden im Stillen.» In ihrer Praxis würden die Eltern die Einsamkeit nie von sich aus ansprechen. Viele Betroffene denken, dass sie sich die Elternschaft selbst ausgesucht hätten und die Einsamkeit darum einfach aushalten müssten. «Das geht mit Scham und Schuldgefühlen einher», so Palm. Die Einsamkeit trete aber selten als einzige Belastung auf.
Die Einsamkeit würde meistens im Zusammenhang mit anderen Belastungen wie Überforderung, Isolation oder fehlender emotionaler Unterstützung auftreten, bestätigt die Fachstelle Pro Familia. Die Eltern würden vor allem in den ersten Jahren nach der Geburt von Einsamkeit berichten, so Palm. «Häufig kommt die Aussage: ‹Ich bin umgeben von Leuten, aber ich bin allein.›» Die Gründe hinter der Einsamkeit seien vielfältig.
Ursachen für die Einsamkeit
Zum einen fallen Rollen weg, die Eltern vor der Geburt noch hatten: Man arbeitet nicht mehr und engagiert sich vielleicht nicht mehr für Dinge, die einem wichtig waren. Freundschaften rücken in den Hintergrund. Dazu komme, dass sich die Paarbeziehung verändert, einige Paare verlören sich aus den Augen.
«Einsamkeit ist einfach ein Gefühl», so Palm. Aber es sei wichtig, dieses ernst zu nehmen. Wenn die Einsamkeit chronisch wird, könne sie zu Depressionen, Angstzuständen oder körperlichen Beschwerden führen. Neben den individuellen Gründen für die Einsamkeit nach der Geburt, wie Perfektionismus oder der Rollenwechsel zur Elternschaft, gibt es auch strukturelle Gründe dafür, wieso sich Eltern nach der Geburt allein fühlen.
Kernfamilie unter Druck
«In den letzten Jahrzehnten hat sich etwas Wesentliches verändert», sagt Simona Palm. «Die Art, wie wir zusammenleben. Wir leben sehr individuell und die Elternschaft wurde etwas eher Privates.»
Früher wohnten Eltern oder die Grosseltern öfters in der Nähe, vielleicht sogar im selben Haus. Heute leben die meisten Familien in sogenannten Kernfamilien: zwei Elternteile und Kinder unter demselben Dach. Das könne bedeuten, dass viel Druck auf zwei paar Schultern lastet, so Palm. Die Einsamkeit nach der Geburt ist besser erforscht bei Müttern, kann aber auch Väter treffen.
Der moderne Vater und die Realität
«Ich wollte ein moderner Vater sein», sagt Paolo Sferrazzo, Vater einer dreijährigen Tochter. Nach der Geburt nimmt er sich eine sechsmonatige Auszeit von seinem Job, um für seine Partnerin und das Baby da zu sein. Die erste Zeit sei schön gewesen, aber als er zur Arbeit zurückkehrte, schlich sich die Einsamkeit in sein Leben ein. Für ihn sei es nicht einfach gewesen, dieses Gefühl zu akzeptieren.
Sferrazzo macht sich Vorwürfe. Er geniesse viele Privilegien, habe ein Wunschkind und fragt sich, ob er zu hohe Ansprüche habe, ob seine Einsamkeit ein «Luxusproblem» sei. Mit diesen Gedanken ist er nicht allein: Tragen betroffene Eltern Schuld an ihrer Einsamkeit?
Schuld oder Verantwortung
«Nein», sagt Psychotherapeutin Simona Palm. Es kommen viele Faktoren zusammen, die dieses Gefühl begünstigen. «Das Wichtigste ist, dass man sich ernst nimmt, wenn man einsam ist.» Die Verantwortung der Betroffenen liege darin, sich zu fragen, wie sie mit diesem Gefühl umgehen können. Das hat auch Paolo Sferrazzo gemacht.
Er suchte das Gespräch bei der Väterberatung in Zürich und berichtete dort von seiner Einsamkeit. Er suchte den Kontakt zu Vätern in seinem Umfeld und merkte, dass sie alle mit denselben Herausforderungen zu kämpfen haben, zu Hause und bei der Arbeit. Sie hätten aber keine Zeit gefunden, um sich zu treffen und auszutauschen. Sferrazzo bedauert das.
Der Kampf um Austausch
«Wenn ich mit meiner Tochter draussen bin und andere Mütter zusammen mit ihren Kindern sehe, frage ich mich, warum wir Väter das nicht auch können.» Paolo Sferrazzo wünscht sich den Kontakt zu anderen Vätern, hat sich bis jetzt aber noch nicht getraut, das Thema Einsamkeit direkt anzusprechen. Er macht sich Sorgen, dass die Reaktionen negativ sein könnten.
30 bis 40 Prozent der Eltern fühlen sich nach der Geburt einsam.
Einsamkeit betrifft auch alleinerziehende Eltern: Sie fühlen sich einsam, weil ihnen ein erwachsenes Gegenüber fehlt, schreibt Pro Juventute auf ihrer Website. Gerade Eltern von kleinen Kindern seien am Abend zu Hause eingebunden. Eine weitere besonders verletzliche Gruppe sind Mütter mit Migrationshintergrund – das zeigen internationale Studien.
Diese Frauen kommen in ein neues Land, können sich unter Umständen keine externe Betreuung leisten, haben häufig keine Familie in der Nähe und müssen möglicherweise ihre Karriere aufgeben. Das kann zu Isolation führen und sie einsam machen.
Erste wissenschaftliche Erkenntnisse
In der Schweiz wird Einsamkeit bei Eltern aktuell zum ersten Mal untersucht. Piroska Zsindely, Hebamme und wissenschaftliche Mitarbeiterin an der ZHAW, erforscht in ihrer Doktorarbeit den Zeitraum von der Schwangerschaft bis drei Jahre nach der Geburt. Erste Ergebnisse zeigen: Rund 30 bis 40 Prozent der Eltern in der Schweiz fühlen sich einsam, dieser Wert entspricht internationalen Studien.
Die Untersuchung läuft voraussichtlich bis 2029, detaillierte Analysen zu Unterschieden zwischen Müttern und Vätern sowie zu den Gründen hinter der Einsamkeit stehen noch aus. Zsindely sieht noch Luft nach oben bei Angeboten, die den Austausch zwischen Eltern fördert. Eine Möglichkeit seien sogenannte «Third Spaces».
Der Weg aus der Einsamkeit
Orte, die anders wie klassische Mütter- oder Vätertreffs an mehreren Tagen pro Woche geöffnet sind und Eltern die Möglichkeit bieten, ganz unkompliziert vorbeizukommen – so, wie sie gerade sind. Ungeschminkt, nicht perfekt und ohne die Verpflichtung, vor Ort etwas konsumieren zu müssen. Auch Melanie Meier sehnte sich nach der Geburt nach Austausch.
«Ich muss soziale Kontakte aufbauen, sonst vereinsame ich», sagte sie sich. Sie ging in einen Treff im Dorf, lernte andere Frauen kennen und fragte sie, ob sie Teil ihres Lebens sein wollen. Mit Erfolg: Sie findet Freundschaften. Heute fühlt sie sich nur noch ganz selten einsam. «Das ist nicht mehr vergleichbar mit der Anfangszeit.»