Die Ausstellung ist mit deutlichen Warnhinweisen versehen. Es gibt einen Rückzugsort; für den Fall, dass es Besuchenden zu viel wird. Warum? Die gezeigte Videoinstallation der US-Künstlerin Suzanne Lacy hat es in sich. Das Publikum wird mit Erfahrungsberichten misshandelter Frauen konfrontiert.
Männer lesen Gewaltberichte
Grosse Bildschirme zeigen Männer, die eine halbe Stunde lang Geschichten von Frauen aus Ecuador vorlesen – Frauen, die Gewalt erlebt haben. Es geht um Missbrauch, Gruppenvergewaltigung und Femizid.
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Bild 1 von 5. Das Museum Tinguely in Basel zeigt aktuell die Videoinstallation «De tu puño y letra (By Your Own Hand)» (2014-2015/2019) der US-amerikanischen Künstlerin Suzanne Lacy. Bildquelle: Suzanne Lacy/Museum Tinguely Basel/Pati Grabowicz.
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Bild 2 von 5. Lacy ist seit den 1970er-Jahren eine Pionierin der feministischen und aktivistischen Performancekunst. In ihrem Schaffen verbindet sie Kunst mit sozialem Engagement. Bildquelle: Museum Tinguely Basel/Pati Grabowicz.
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Bild 3 von 5. Die Filmaufnahmen entstanden in einer Stierkampfarena, einem männlich konnotierten Raum, der traditionell von Gewalt und Dominanz geprägt ist. Bildquelle: Suzanne Lacy/Christoph Hirtz.
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Bild 4 von 5. Die kreisförmige Anordnung der Projektionen versetzt das Publikum selbst in die Mitte der Arena ... Bildquelle: Suzanne Lacy/Museum Tinguely Basel/Pati Grabowicz.
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Bild 5 von 5. ... und konfrontiert es direkt mit den Worten und Blicken der Akteure. Bildquelle: Suzanne Lacy/Museum Tinguely Basel/Pati Grabowicz.
«Die bewusste Entscheidung, männlich gelesene Personen die Zeugnisse weiblich gelesener Gewaltopfer vortragen zu lassen, unterstreicht die Rolle des Patriarchats als strukturelle Grundlage dieser Gewalt», heisst es im Pressetext zur Ausstellung.
Aufklärung in der Ausstellung
Gewalt gegen Frauen ist auch in der Schweiz verbreitet. Das Museum bietet daher ein Rahmenprogramm, erklärt Kuratorin Sandra Reimann. Dazu gehören Lesungen, Diskussionen mit Fachpersonen – und Workshops für Jugendliche.
Denn: «In der Schweiz ist laut Zahlen der Opferhilfe jede zweite Beziehung von Jugendlichen von sexualisierter Gewalt betroffen», sagt Reimann. «Deswegen bieten wir zusammen mit der Opferhilfe Workshops für Schulklassen an.»
Stimmen der Schüler
Eine zweite Klasse der Fachmittelschule Murten sitzt in einem dunklen Raum. Um sie herum Bildschirme. Abwechselnd erscheinen darauf die Männer, lesen erschütternde Berichte vor: «I learned to die, little by little», heisst es in einer Rezitation – eine Frau, die häusliche Gewalt erlebt und durch den Mund des Mannes ausspricht: bei jedem Schlag würde sie ein kleines Stück mehr sterben.
Die Videos stammen von einer Performance, die die Künstlerin in der ecuadorianischen Hauptstadt Quito veranstaltete. Die Jugendlichen aus Muttenz sind beeindruckt: «Das ist recht brutal gewesen. Es ist ein Tabuthema», sagt ein Schüler. Eine Schülerin: «Es ist schon eine krasse Ausstellung, die man nicht alltäglich im Museum zu sehen bekommt.»
Im Workshop reflektiert eine Vertreterin der Opferhilfe das Gehörte mit der Klasse. Es geht um verschiedene Arten von sexualisierter Gewalt, von verbalen Übergriffen bis hin zur extremsten Form, dem Femizid.
Die Klasse hört zu, kommentiert, teilt ihre Gedanken. Extreme Gewalt würden die Schüler zum Glück nur aus den Medien kennen. Präsent ist das Thema dennoch: «Ich finde als Jugendliche oder Frau kann man Blicken von Männern im öffentlichen Verkehr oder in der Stadt generell nicht ausweichen. Ich bin selbst auch schon belästigt worden – also ich wurde ungewollt angefasst», erzählt eine Schülerin.
«Man muss nicht unbedingt so etwas erlebt haben», sagt eine andere. «Man spürt, wenn es einem unangenehm ist. Im Tram, im Zug, am Abend, weil man immer jemanden anrufen muss, damit man nicht allein ist. So betrifft es dann wieder jede Frau.» In solchen Situationen würden sie sich oft hilflos fühlen, sagen mehrere Schülerinnen.
Die Schau würde ihnen darum ein Stück weit auch guttun. Eine Schülerin sagt, es sei ermutigend, dass Betroffene sich trauen würden, ihre Erfahrungen zu teilen. So wisse man, dass man mit solchen Erlebnissen nicht allein sei und offen darüber sprechen dürfe.
Es ist eine bedrückende Ausstellung. Aber auch eine ermutigende – weil Betroffene eine Stimme bekämen.