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Anthologie übers Artensterben Eine literarische Wunderkammer für verschwundene Geschöpfe

Von der Stellerschen Seekuh bis zum Kaspischen Tiger: Matthias Jügler hat 19 Autorinnen und Autoren gebeten, über je eine ausgestorbene Art zu schreiben. «Wir dachten, wir könnten fliegen» ist eines der schönsten Bücher des Jahres.

T. C. Boyle, Alex Capus, Charlotte Gneuss, Kim de l’Horizon, Helen Macdonald, Caroline Wahl – Matthias Jügler hatte die Namen der von ihm geschätzten Kollegenschaft schnell beisammen. Und mit seiner Bitte um einen literarischen Text zum Artensterben rannte er offene Türen ein.

Matthias Jügler selbst ist seit Kindertagen ein begeisterter Angler – wie schon sein Vater, Onkel und Grossvater. Als er nach langer Zeit wieder einmal Nachtangeln war und stolz einen Aal nach Hause brachte, war seine Frau entsetzt. Aale seien doch akut vom Aussterben bedroht.

Nicht länger zu verdrängen 

Es war einer jener Umstände, die Matthias Jügler das Artensterben nicht mehr als schlechte Nachricht unter vielen verdrängen liess. Da er fand, er sei nicht der Richtige für einen ökologischen Roman, kam ihm die Idee, eine Anthologie, also eine Sammlung ausgewählter Texte, herauszugeben. Einzige Vorgabe: es sollte nicht um Appelle gehen, sondern um die genuine Auseinandersetzung mit einer verschwundenen Art.

Mann mit Brille vor schwarzem Hintergrund.
Legende: Der deutsche Schriftsteller Matthias Jügler lud Lieblingsautorinnen und -autoren ein, 19 Geschichten über ausgestorbene Tiere und Pflanzen zu schreiben. Michael Bader

Vom Auerochsen über den Brotpalmfarm, den Schuppenkehlmoho und die Daintree’s River Banana, den Kaspischen Tiger, den Riesenalk und den Hawaiianischen Berghibiskus eröffnet sich beim Lesen 19-mal eine Wunderkammer. Man braucht sich nicht unbedingt für Tiere und Pflanzen zu interessieren, um Sorge, Trauer und Faszination hautnah mitzubekommen. 

Wiederauferstandene Seekuh 

Das Autorenpaar Katerina Poladjan und Henning Fritsch zum Beispiel schreibt über die Stellersche Seekuh. In ihrer Geschichte ist das mächtige Tier zwar bereits ausgestorben – ihm wird 1900 jedoch im russischen Ochotsk ein Empfang gegeben wird. Ein Fall von Lazarus-Effekt? Jedenfalls erscheint die Seekuh in einem roten Paillettenkleid und geniesst den Abend. Aber beim Tanz mit dem Gouverneur gerät sie ins Straucheln und begräbt fast das ganze Orchester unter sich. 

Illustration eines ausgestorbenen Stellerschen Seelöwen auf Felsen.
Legende: Illustration der Stellerschen Seekuh (lat. Hydrodamalis gigas) aus «Naturhistorische Abbildungen der Säugetiere» von Heinrich Rudolph Schinz, circa 1841. Die Riesenseekuh scheint nach heutigen Erkenntnissen eine geringe Reproduktionsrate gehabt zu haben, was ihre rasche Ausrottung beschleunigte. IMAGO / Bluegreen Pictures

Sie stirbt an den Folgen dieses Sturzes, ist ein zweites Mal ausgerottet. Und was tun die Partygäste? Sie fangen an, die Hydrodamalis gigas aufzuessen. Es ist eine Geschichte, die durch ihre märchenhaften Einfälle eine ganze Palette ökologischer, politischer und gesellschaftlicher Fragen aufwirft und ohne erhobenen Zeigefinger demonstriert, wie Menschen ticken: erst mal munter weitermachen.

Grosses Lesevergnügen 

Begleitet werden die Erzählungen von grossformatigen Bildern der deutsch-polnischen Illustratorin Barbara Dziadosz. Hyperrealistisch schillern sie ins Fantastische und passen perfekt zu den Texten, die ebenfalls schillernd Zusammenhänge aufzeigen. Indem sie etwa beschreiben, wie neben Gier und Dummheit auch menschenunwürdige Lebensumstände zum Artensterben beitrugen. 

Buchhinweis

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Matthias Jügler (Hrsg.): «Wir dachten, wir könnten fliegen. 19 Geschichten über den Verlust der Arten und die Kraft der Literatur». Illustriert von Barbara Dziadosz. Penguin, 2025.

«Wir dachten, wir könnten fliegen» ist ein spannendes, lehrreiches und oft auch sehr komisches Buch, das an Erfahrungen rührt, die auch Menschen betreffen. Es ist ein grosses Lesevergnügen, auch wenn man wie Herausgeber Matthias Jügler eine herbe Bilanz ziehen kann: «Am Ende habe ich gelernt – und das ist ziemlich bitter – dass wir Menschen es offensichtlich einfach nicht begreifen, dass wir die Natur bitteschön Natur sein lassen sollten.»

Radio SRF 2 Kultur, Kultur Aktualität, 05.12.2025, 17:10 Uhr

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