T. C. Boyle, Alex Capus, Charlotte Gneuss, Kim de l’Horizon, Helen Macdonald, Caroline Wahl – Matthias Jügler hatte die Namen der von ihm geschätzten Kollegenschaft schnell beisammen. Und mit seiner Bitte um einen literarischen Text zum Artensterben rannte er offene Türen ein.
Matthias Jügler selbst ist seit Kindertagen ein begeisterter Angler – wie schon sein Vater, Onkel und Grossvater. Als er nach langer Zeit wieder einmal Nachtangeln war und stolz einen Aal nach Hause brachte, war seine Frau entsetzt. Aale seien doch akut vom Aussterben bedroht.
Nicht länger zu verdrängen
Es war einer jener Umstände, die Matthias Jügler das Artensterben nicht mehr als schlechte Nachricht unter vielen verdrängen liess. Da er fand, er sei nicht der Richtige für einen ökologischen Roman, kam ihm die Idee, eine Anthologie, also eine Sammlung ausgewählter Texte, herauszugeben. Einzige Vorgabe: es sollte nicht um Appelle gehen, sondern um die genuine Auseinandersetzung mit einer verschwundenen Art.
Vom Auerochsen über den Brotpalmfarm, den Schuppenkehlmoho und die Daintree’s River Banana, den Kaspischen Tiger, den Riesenalk und den Hawaiianischen Berghibiskus eröffnet sich beim Lesen 19-mal eine Wunderkammer. Man braucht sich nicht unbedingt für Tiere und Pflanzen zu interessieren, um Sorge, Trauer und Faszination hautnah mitzubekommen.
Wiederauferstandene Seekuh
Das Autorenpaar Katerina Poladjan und Henning Fritsch zum Beispiel schreibt über die Stellersche Seekuh. In ihrer Geschichte ist das mächtige Tier zwar bereits ausgestorben – ihm wird 1900 jedoch im russischen Ochotsk ein Empfang gegeben wird. Ein Fall von Lazarus-Effekt? Jedenfalls erscheint die Seekuh in einem roten Paillettenkleid und geniesst den Abend. Aber beim Tanz mit dem Gouverneur gerät sie ins Straucheln und begräbt fast das ganze Orchester unter sich.
Sie stirbt an den Folgen dieses Sturzes, ist ein zweites Mal ausgerottet. Und was tun die Partygäste? Sie fangen an, die Hydrodamalis gigas aufzuessen. Es ist eine Geschichte, die durch ihre märchenhaften Einfälle eine ganze Palette ökologischer, politischer und gesellschaftlicher Fragen aufwirft und ohne erhobenen Zeigefinger demonstriert, wie Menschen ticken: erst mal munter weitermachen.
Grosses Lesevergnügen
Begleitet werden die Erzählungen von grossformatigen Bildern der deutsch-polnischen Illustratorin Barbara Dziadosz. Hyperrealistisch schillern sie ins Fantastische und passen perfekt zu den Texten, die ebenfalls schillernd Zusammenhänge aufzeigen. Indem sie etwa beschreiben, wie neben Gier und Dummheit auch menschenunwürdige Lebensumstände zum Artensterben beitrugen.
«Wir dachten, wir könnten fliegen» ist ein spannendes, lehrreiches und oft auch sehr komisches Buch, das an Erfahrungen rührt, die auch Menschen betreffen. Es ist ein grosses Lesevergnügen, auch wenn man wie Herausgeber Matthias Jügler eine herbe Bilanz ziehen kann: «Am Ende habe ich gelernt – und das ist ziemlich bitter – dass wir Menschen es offensichtlich einfach nicht begreifen, dass wir die Natur bitteschön Natur sein lassen sollten.»