Er ist ein Meister der schlichten Sprache – und fesselt die Leserschaft mit psychologischer Tiefe. Im November steht Peter Stamm ganz oben auf der SRF-Bestenliste. Hier die im November von der Jury gekürten Lese-Highlights im Countdown.
5. Martina Clavadetscher: «Die Schrecken der anderen» (17 Punkte)
Der Roman beginnt wie eine Kriminalgeschichte: Im zugefrorenen «Ödwilersee» wird eine Leiche gefunden. Doch Martina Clavadetscher belässt es nicht bei einem einzigen Handlungsstrang. Es gibt mehrere, und so geht es beispielsweise auch um den Verein der «Herren mit Zylinder», der einen gesellschaftlichen Umsturz plant. Clavadetscher mischt historische Fakten mit Fiktion und holt unliebsame Erinnerungen an die Schweiz während der Zeit des Nationalsozialismus hervor.
Martina Clavadetscher erzählt nicht nur Geschichten, sondern auch Geschichte – und das mit einem Personal, das alles andere als blutleer ist und auf verschiedenen Ebenen Spannungen erzeugt. All das geschrieben in einer Sprache, die dem Roman einen unverwechselbaren Soundtrack verleiht.
4. Jehona Kicaj: «ë» (22 Punkte)
«ë» von Jehona Kicaj erzählt die Geschichte einer jungen Frau, die als Kind geflüchteter Eltern aus dem Kosovo in Deutschland aufwächst. Die Erzählerin leidet unter Bruxismus – nächtlichem Zähneknirschen – und besucht regelmässig ihren Zahnarzt. Die körperlichen Symptome werden zum Ausgangspunkt einer tiefen Reflexion über Sprachverlust, Migration und die Nachwirkungen des Kosovokriegs.
Jehona Kicaj erzählt in diesem schmalen Buch in unglaublich präzisen und starken Bildern von Krieg, Identität und Trauma, von Sprache und Sprachlosigkeit – und vom Zähneknirschen. Für mich ein literarisches Kunstwerk, das berührt und dem ich sehr viele Leser wünsche.
3. Ian McEwan: «Was wir wissen können» (26 Punkte)
Ian McEwan ist 77 Jahre alt, und seine Erzähllust ist ungebrochen. Auch mit seinem neuen Roman legt er ein komplexes, tiefgründiges und nicht zuletzt spannendes Werk vor. «Was wir wissen können» ist eine Dystopie, die im 22. Jahrhundert spielt: Nach Tsunamis, Kriegen, Krankheiten und Hungersnöten hat sich die Weltbevölkerung auf knapp vier Milliarden Menschen dezimiert. Ein Literaturwissenschaftler begibt sich auf die Suche nach einem verschollenen Gedicht. Einem Gedicht aus unserer heutigen Zeit.
Ian McEwan ruft uns mit diesem Buch in Erinnerung, dass wir den Menschen der Zukunft auch eine Zukunft schulden.
2. Dorothee Elmiger: «Die Holländerinnen» (32 Punkte)
Dorothee Elmiger hat sich einen Kriminalfall vorgenommen, und zwar einen, der sich tatsächlich zugetragen hat: 2014 sind zwei niederländische Touristinnen im Urwald Panamas verschwunden und nie wieder aufgetaucht. Elmiger nun lässt eine Theatergruppe in den Urwald reisen, um den Fall zu rekonstruieren. Vollständig in der indirekten Rede verfasst und mit einer Vielzahl an Erzählebenen, wird dieser Roman selbst zum Sprachdschungel. Und überall lauert das Grauen.
Dicht und doch leichtfüssig erzählt und inszeniert Dorothee Elmigers Roman – und führt dabei das Erzählen und das Inszenieren vor.
1. Peter Stamm: «Auf ganz dünnem Eis» (38 Punkte)
Peter Stamms Erzählband «Auf ganz dünnem Eis» ist ein literarisches Mosaik über das fragile Gleichgewicht des Lebens. Da gibt es zum Beispiel eine Schauspielerin, deren Leben zunehmend mit ihrer Rolle verschmilzt – oder einen jungen Mann, der im Keller seiner Eltern eine Mission auf den Mars simuliert. Die neun Geschichten sind verbunden durch ihre leise Dramatik, ihre existenzielle Tiefe und die Frage: Was passiert, wenn das Leben ins Rutschen gerät – und man trotzdem weitergeht?
Peter Stamm wird immer besser! Wie er mal satirisch, mal mit hinreissender Empathie von verdrängten oder bewältigten Schuldgefühlen erzählt, weist weit über die Schweizer Landesgrenzen hinaus: Erfindungsreich und literarisch vertrackt.